Entfremdung in der Falle postfordistischer Ideologie – ein Plädoyer

Erschienen auf Theoriekritik

Entfremdungskritik ist nach wie vor ein Gegenstand philosophischer und sozialwissenschaftlicher Debatten (Jaeggi 2005; Henning 2015; Rosa 2013; Zima 2014). Während Entfremdung vor allem in den Theorien der modernen westlichen Philosophie wie bei Rousseau, Hegel und Marx eine tragende Rolle gespielt hat, zielen aktuelle Diskussionen um Entfremdung vor allem auf Probleme der subjektiven Verarbeitungsweisen der Menschen. Im Zuge des Prozesses, der mit Begriffen wie Globalisierung, Individualisierung oder Neoliberalismus umschrieben wird, wandelt sich auch die Wahrnehmung gesellschaftlicher Widersprüche wie der zwischen Kapital und Arbeit. War dieser Widerspruch im Früh- und Hochkapitalismus als Charakteristikum gesellschaftlicher Verhältnisse fassbar, wird er nun mehr und mehr in die Menschen selbst verlagert und führt zu zahlreichen Erscheinungen wie Burnout oder Depression. Darüber hinaus setzen multiple Krisen, wie die Finanz- oder Umweltkrise, den Menschen weiter zu. Mit diesen gesellschaftlichen Transformationen geht nun auch ein Wandel des Diskurses um Entfremdung einher. Ist Entfremdung vor allem im Anschluss an Rousseau und Hegel ein philosophisches Konstrukt, das das ontologische Verhältnis von Veräußerung und Weltaneignung thematisiert, verbindet Marx Entfremdungserfahrungen stärker mit politischer Ökonomie. Auch er spricht bei Entfremdung davon, dass den Menschen „etwas äußerlich“ (MEW 40: 514) wird, bezieht dies aber auf die kapitalistische Produktionsweise. Entfremdungskritik wird so zur Kapitalismuskritik und Entfremdungserfahrungen unweigerlich mit den aktuellen Produktionsverhältnissen und der Produktivkraftentwicklung verbunden. In dieser Traditionslinie stehen auch Diskurse im Rahmen der Kritischen Theorie. Die beiden derzeit einflussreichsten Stimmen, die sich im deutschsprachigen Raum mit Entfremdung beschäftigen, Hartmut Rosa und Rahel Jaeggi, verorten sich selbst dort.

Ziel dieses Aufsatzes ist es, die Fallstricke in den Theorien von Rosa und Jaeggi aufzuzeigen, in die sie sich begeben, wenn sie von einer Erneuerung der Entfremdungskritik sprechen: Um Entfremdung als Prozess zwischen gesellschaftlichen Strukturen und darin eingebetteten und handelnden Akteur*innen zu verstehen, müssen eine tiefgehende Kritik der aktuellen politischen Ökonomie und deren subjektive Verarbeitung analytisch verbunden werden.

Entfremdung als Begriff der politischen Ökonomie

Nachdem der Entfremdungsbegriff vor allem bei Rousseau und Hegel philosophisch ausgearbeitet wurde und die Erfahrungen der Menschen beim Übergang von der ständischen in die moderne Gesellschaft reflektieren sollte, wird er bei Marx zu einem Begriff der politischen Ökonomie.
Durch den langen und gewaltsamen Prozess der ursprünglichen Akkumulation ist eine Klasse von Lohnabhängigen entstanden. Diese hat nichts zu verkaufen als ihre Arbeitskraft. Durch den herrschaftsförmig organisierten Arbeitsprozess sind sie, so Marx, besonders von der Entfremdung in der Arbeit betroffen. Diese zeigt sich darin, dass das Produkt der Arbeit nicht den Arbeitenden selbst gehört, sondern den Besitzer*innen der Produktionsmitteln, den Kapitalist*innen. Die Lohnarbeit als entfremdete Arbeit formt nicht nur das Verhältnis der Arbeitenden zum Akt und Produkt ihrer Produktion, sondern auch das Verhältnis, in dem die Kapitalist*innen zu den Produkten und zu den Arbeitenden stehen. Marx betrachtet diese Verhältnisse als das Wesen des Privateigentums, welches eine notwendige Folge der entfremdeten Arbeit ist. Nachdem die Entfremdungskritik in Marx` Frühwerk stark philosophisch geprägt war, gewinnt sie im Kapital einen stärker ökonomischen Akzent. Dort spricht Marx vom Fetischcharakter der Ware (MEW 23: 85ff.). Dieser liegt nicht in den Dingen an sich begründet, sondern wird gesellschaftliche hergestellt. Dass materiellen Dingen (wie Eisen oder Röcken) erst bestimmte Wertgrößen zugemessen und sie damit überhaupt erst zu Waren werden, sind Eigenschaften, die diese eben nicht „von Natur aus“ (MEW 23: 72) besitzen wie etwa die „Eigenschaft, schwer zu sein oder warm zu halten“ (ebd.). Der Warenfetisch besteht darin, dass den Produkten die Eigenschaften, Ware zu sein und Wert zu besitzen, als dingliche Eigenschaften zugesprochen werden, während es sich bei Ware und Wert tatsächlich um einen Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse handelt. Der gesellschaftliche Charakter ihrer eigenen Arbeit erscheint den Menschen daher als gegenständlicher Charakter der Arbeitsprodukte selbst, als deren Natureigenschaften. Das hinter dem Wert verborgene gesellschaftliche Verhältnis ist „unter dinglicher Hülle“ (ebd.: 88) versteckt.
Im Kontext einer sich ausweitenden Bürokratisierung der bürgerlichen Herrschaft und kapitalistischer Landnahme Anfang des 20. Jahrhunderts formuliert Georg Lukács diesen Gedanken weiter, indem er die Entfremdung aus der Sphäre der Lohnarbeit heraushebt. Für Lukács ist dabei zentral, dass die Warenform universal geworden ist: Alle Beziehungen der Menschen untereinander könnten lediglich als Effekte von Warentausch verstanden werden (vgl. Lukács 1968 [1923]: 100). Diese Kommerzialisierung rührt von der Rationalisierung der Arbeit her, bei der die Arbeitenden bestimmte Eigenschaften von sich abspalten und verkaufen müssen. Die Atomisierung des Individuums als bloßem Anhängsel des Systems führt zum verdinglichten Bewusstsein und wird zur universalen Erscheinungsform der Gesellschaftsformation. Qualitative, menschliche Eigenschaften werden in Quantität aufgelöst und alle Beziehungen bekommen etwas „Dinghaftes“ (Lukács 1968 [1923]: 104).
Beeinflusst von der wirtschaftlichen Hochphase im Globalen Norden nach dem Zweiten Weltkrieg und der ideologischen und praktischen Einbindung eines Großteils der Menschen als Konsument*innen in das kapitalistische Wirtschaftssystem, schließt sich Herbert Marcuse dieser Schlussfolgerung an, dass alle Aspekte menschlichen Lebens von Entfremdung betroffen seien. Diese Totalisierung der Entfremdung lässt Herrschaft demnach in der Maske von Überfluss und Freiheit auftreten. Die fortgeschrittene Industriegesellschaft des eindimensionalen Denkens und Handelns verleibt sich die Opposition ein, anstatt diese gewaltsam zu bekämpfen. Sie operiert nicht (mehr allein) mit Zwang, sondern mit der Verinnerlichung von entfremdeten Bedürfnissen. In dieser Totalität ist das gesamte System entfremdet und die Menschen sich ihrer selbst nicht mehr bewusst (vgl. Marcuse 1964: 26f.). Die Entfremdung ist selbst „objektiv geworden“ (ebd. 31).

Der Strukturwandel der Arbeit: der neue Geist des Kapitalismus

Mittlerweile scheint es zur Gewissheit geworden zu sein: Anfang der 1970er Jahre ist mit der Erschöpfung des Fordismus und dem Aufstieg von Finanzkapitalismus und Neoliberalismus ›etwas geschehen‹. Es ist allerdings ein Umbruch, dessen Umfang immer noch unklar ist und der daher zunächst meist durch den Platzhalter eines ›Post-‹ markiert wurde: Post-Fordismus, Post-Demokratie, Post-Moderne. Auf diese gesellschaftlichen Veränderungen reagierten auch die Entfremdungskritiken von Rahel Jaeggi und Hartmut Rosa. Beide formulieren ihre Kritik – zumindest implizit – vor dem Hintergrund der jüngeren Entwicklung in der Organisation von Lohnarbeit im globalen Norden. Auch wenn für Jaeggi und Rosa die konkrete Organisation der Lohnarbeit nicht mehr der zentrale Ausgangspunkt ist – oder wohl gerade deswegen! –, lohnt es sich, diese jüngere Entwicklungsrichtung zu skizzieren, um zu verstehen, worauf sie sich beziehen.
Die aktuelle Situation zeichnet sich global gesehen durch eine immense Gleichzeitigkeit und Vielfältigkeit der Organisation von Arbeit aus: von Subsistenz, Feudalismus, Sklaverei, frühindustriellen und fordistischem Lohnproletariat bis hin zu postfordistischen Arbeitskraftunternehmer*innen. Dabei ist der die Theorie von Luc Boltanski und Ève Chiapello eine Grundlage, um die subjektive Bearbeitung der neuen Formen der Arbeitsorganisation zu verstehen. In ihrer Studie Der neue Geist des Kapitalismus (Boltanski/Chiapello 2003) konzentrieren sie sich auf eine neue Art der Legitimation der existierenden Produktionsweise und damit auch auf eine neue Art der Einbindung der Arbeitenden in ihre Logik. Anstatt lineare Karriereverläufe zu verfolgen, sollten sich Menschen, so der neue Imperativ, in Netzwerken bewegen und Projekte generieren und vorantreiben. Während damit auf Seite der Arbeitenden ein neues Autonomieversprechen der selbstbestimmten Arbeit gegeben wird, strebt die Kapitalseite nach einer höheren Produktivität und Flexibilität zum Zweck der Mehrwertproduktion (ebd. 462ff.).

Die Internalisierung kapitalistischer Widersprüche im Post-Fordismus

Damit verändert sich auch die Form der Herrschaft. Einerseits versuchen neue Managementmethoden, eine emotionale Bindung durch Unternehmenskultur und Zusammengehörigkeitsgefühle zu schaffen; andererseits greifen Methoden der „indirekten Steuerung“ (Nies/Sauer 2012: 41), die eine möglichst große Handlungsautonomie der Beschäftigten mit deren Orientierung an ›objektiven‹ Marktkennzahlen verbinden. Die Beschäftigten sollen möglichst frei über das „Wie“ ihrer Arbeit entscheiden, werden jedoch anhand ihrer erzielten Ergebnisse im Vergleich mit festgelegten Kriterien bewertet, die sich im Idealfall direkt aus dem Absatzmarkt ergeben.
Nies und Sauer schließen mit ihrer Darstellung direkt an die Vorstellung der Eindimensionalität bei Marcuse an, erweitern diese aber: Nicht nur die Konsumbedürfnisse der Kulturindustrie werden verinnerlicht, sondern auch das profitorientierte unternehmerische Denken des Neoliberalismus. Dabei werden die Widersprüche zwischen marktorientierter Profitlogik und begrenzten Ressourcen, zwischen Gewinnmarge und Kundenwünschen, zwischen Quantität und Qualität sowie letztlich zwischen Tauschwert und Gebrauchswert in die Arbeitenden selbst hinein verlagert. Durch die Internalisierung des Marktes müssen die Arbeitenden ihre Ware Arbeitskraft nicht mehr nur als Verkäufer*innen, sondern als Unternehmer*innen verhandeln (ebd.: 46f.). Diese Internalisierung ist der entscheidende ideologische Kontext für die neuen Entfremdungskritiken von Jaeggi und Rosa. Die Kommodifizierung vieler Lebensbereiche und die Ausweitung atypischer Beschäftigung in Form von Befristungen, Leiharbeit und Projektarbeit sowie der sinkende Einfluss von Gewerkschaften und Tarifverträgen und neue Formen der aktivierenden Sozialpolitik stellen den gesellschaftlichen Kontext dieser Kritiken dar.

Entfremdungstheorie bei Hartmut Rosa und Rahel Jaeggi

Sowohl für Rosa als auch für Jaeggi bildet das – auf die Lohnarbeit erweiterte – Autonomieversprechen der Moderne und die damit verbundenen subjektiven Vorstellungen eines guten Lebens den Ausgangspunkt für die Analyse von Entfremdungsphänomenen. Sie folgen damit dem Wandel der kapitalistischen Herrschaftsform in die Subjekte hinein, wo Entfremdung als Gefühl innerer Widersprüche entstehe.
Jaeggi bezeichnet ihren Bezug auf das subjektive Wollen der Individuen und deren Vorstellungen vom guten Leben als Ausgangspunkt für ihre Entfremdungskritik „qualifizierten Subjektivismus“ und grenzt sich damit explizit von der hegel-marxistischen Entfremdungskritik ab (Jaeggi 2005: 59). Das Subjekt entstehe erst im eigenen Tun in Interaktion mit der umgebenden Welt und sei damit grundsätzlich fluide und durch Beziehungen bestimmt, die es selber erschaffe. Den Zustand der Entfremdung, der notwendigerweise Selbstentfremdung ist, sieht Jaeggi in einer gestörten Beziehung zu sich selbst und zu den eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Werten und Handlungen, wobei diese Störung sich gerade in einer nicht angeeigneten Beziehung ausdrücke, einer „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (ebd.: 19). Das Subjekt ist entfremdet im Sinne Jaeggis, wenn es sich die Rollen, Wünsche oder Beziehungen zur Welt nicht als eigene Identität aneignen kann. Die aus diesem gestörten Selbstverhältnis resultierenden Ohnmachtsgefühle kommen daher nicht von außen, sondern entstehen aus einer Situation, in der etwas „eigen und fremd“ und das Subjekt somit „zugleich Opfer und Täter“ (ebd.: 42) ist.
Rosa leitet seine Entfremdungskritik aus der eigenen Theorie der Beschleunigung ab. Grundlegend ist der Gedanke, dass eine gesamtgesellschaftliche Beschleunigung das Autonomieversprechen der Moderne unterlaufe und die Individuen darin hindere, dieses Versprechen wahrzunehmen. Als Beschleunigung versteht Rosa eine „Verkürzung der […] Gegenwart“ (Rosa 2013: 23) im Sinne einer immer schneller verfallenden Gültigkeit von Erfahrungen sowie einer immer höheren Dichte an Handlungen und Erlebnissen. Diese Beschleunigung ist einerseits davon getrieben, dass eine Verdichtung von Zeit als Arbeits-, Kreditlauf- oder Innovationszeit der primäre Mechanismus der Profitgenerierung sei. Andererseits bestärkt die kulturell fundierte „Verheißung der Ewigkeit“ (ebd.: 39f.) bei gleichzeitiger Endlichkeit des Lebens den Drang, durch eine höhere Geschwindigkeit mehr Erlebnisse in das endliche Leben zu integrieren. Die durch diese beiden „Motoren“ (ebd.: 35) angetriebene Beschleunigung begegnet den Individuen als fremde Macht, die ihr Handeln bestimmt und sie an der Umsetzung des Autonomieversprechens und ihrer Vorstellungen vom guten Leben hindert. Für Rosa bleibt daher ein „vages Gefühl der Fremdbestimmung ohne Unterdrücker“ (ebd.: 121).

Hartmut Rosa: Abwendung von traditioneller Kapitalismuskritik und Ungleichheitssoziologie

Sowohl bei Jaeggi als auch bei Rosa wird deutlich, dass sie der oben beschriebenen Verlagerung des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit in die Subjekte hinein folgen.
Rosa konstatiert, dass alle Formen der Beschleunigung universell ganze Gesellschaften erfassen. Er kritisiert an früheren Entfremdungstheorien eine
„Überbetonung der Widersprüche innerhalb des Kapitalismus […], also der Spaltungen, Spannungen und Trennungen zwischen Klassen und Schichten“ (Rosa 2009: 97).
Beschleunigung und damit einhergehende Entfremdungsphänomene seien ein „totalitäres“ Element, dem keine „Lebens- und Gesellschaftssphäre entkommt“ (Rosa 2013: 90). Theorien zu sozialer Ungleichheit bezieht Rosa kaum oder wenig ein, die spezifisch kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsbedingungen spielen keine Rolle. Die Klassengesellschaft ignoriert er in seinem Beschleunigungssystem. Stephan Lessenich konstatiert, dass es in Rosas Beschleunigungstheorie keine „sozial relevanten, klassisch vertikalen Differenzierungslinien mehr“ (Lessenich 2009: 237f.) gibt. Somit regiert bei Rosa die allumfassende Entfremdung, die Shareholder*innen, Fabrikarbeiter*innen und Freiberufler*innen gleichermaßen betrifft.
Ursache und Konsequenz dieser Theorie ist ein vereinfachtes Kapitalismusverständnis und eine fehlende Analyse der Produktions- und Reproduktionsbedingungen – auch der Beschleunigung selbst. Wie Klaus Dörre formuliert, fehlt die Antwort auf die Fragen, „warum, wie, wozu, von wem und wer eigentlich beschleunigt […] wird“ (Dörre 2009: 183). Dadurch bleibt Rosa in seiner Argumentation undifferenziert und unspezifisch. Indem er die Ausbeutung lebendiger Arbeitskraft als Ursprung von Mehrwert ignoriert, wendet sich Rosa von einer Anschlussfähigkeit an Fragen der Verteilung, Ungerechtigkeit und Ausbeutung ab. Der kapitalistische Widerspruch von Kapital und Arbeit löst sich in einer allumfassenden Beschleunigungsspirale auf.

Universalismus bei Hartmut Rosa – ein Beispiel

So diverse Prozesse wie verstärkte Vermarktlichungen im Pflegebereich (Senghaas-Knobloch 2008), die Entstehung neuer Formen von Subjektivität, etwa des unternehmerischen Selbst (Bröckling 2007) oder die Finanzialisierung der Wirtschaft werden in Rosas Theorie unter dem Schlagwort der Beschleunigung verhandelt, das in seiner Abstraktheit und seinem Bedeutungsanspruch mehr verschleiert als erklärt. Anhand eines Beispiels zweier fiktiver Figuren will ich diesen Punkt verdeutlichen.
Auf der einen Seite steht eine Altenpflegerin aus der Slowakei, freiberuflich angegliedert an eine Vermittlungsagentur, auf deren Webseite Kund*innen ihre Arbeit anonym bewerten können. Auf der anderen Seite steht ein Projektmanager, der durch indirekte Steuerungsmodelle die Produktivität seines Teams verbessern will und laufend für die Rentabilität seiner Projekte einstehen muss. Beide erleben Beschleunigung und technologischen Wandel. Für Rosa würde sich bei der Altenpflegerin eine Entfremdung vom Raum manifestieren, bedingt durch die Distanz zu ihrem Heimatort. Durch häufig wechselnde Kund*innen wird sie sich womöglich auch von ihren Handlungen entfremden. Auch der Manager pendelt von Flughafen zu Flughafen und jedes Hotel wird durch sein enges Zeitmanagement nur als Kulisse und nicht als Resonanzraum erfahren. Beide erscheinen uns als typische Beispiele für Rosas Entfremdungs- und Beschleunigungstheorie. Jedoch erleben die Figuren auf theoretischer Ebene keine Beschleunigung, sondern das Umformen fordistischer und tayloristischer Arbeitsmodelle sowie damit einhergehende Rationalisierungs- und (Re-) Kommodifizierungsprozesse. Jedes Marktrisiko, die doppelte Freiheit der Arbeitenden, der ungleiche Äquivalententausch und letztlich der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit manifestieren sich in der Kommodifizierung des Selbst der beiden Figuren als Ware. Eben das ist der soziologisch relevante gesellschaftliche Prozess der Entfremdung, nicht die subjektiven Gefühle der Beschleunigung, in denen sich dieser Prozess äußern kann. Zwar sind Altenpflegerin und Manager Betroffene einer kapitalistischen Form der Entfremdung, allerdings verfügen sie über unterschiedliche Ressourcen und nehmen verschiedene soziale Positionen ein (Becker-Schmidt 2007). Die Betroffenheit von verschiedenen kapitalistischen Entfremdungsprozessen und der jeweilige Umgang mit ihnen hängen entscheidend von den Positionen der Betroffenen in der Klassengesellschaft ab.

Rahel Jaeggi – Entfremdung im luftleeren Raum

Für Jaeggi entsteht ein entfremdetes Selbst-Welt-Verhältnis aus der misslingenden Aneignung eigenen Wollens und der eigenen Erfahrungen. Eine widersprüchliche Außenwelt bildet dabei, wenn überhaupt, nur eine Kulisse, die mal mehr, mal weniger unterstützend in diesem Prozess wirksam wird.
Jaeggi erläutert das Phänomen der Entfremdung entlang verschiedener Beispiele. Sie zieht Geschichten über die Beziehungsführung einer jungen Feministin, eines wenig authentischen Medienvertreters oder einer Romanfigur von Pascal Mercier heran. Auch hier wird deutlich, dass auch sie Entfremdung als ein universales Phänomen versteht. Entfremdung resultiert hier nicht aus der gesellschaftlichen Verfasstheit von Produktion und Arbeit, ihren Ursprung, misslingende Aneignungsprozesse finden in der Beziehung, in der Arbeit und in eigenen Hobbys statt. Sie entsteht vielmehr aus dem Verhältnis des Selbst zur subjektiven Außenwelt. Weiterhin sind alle Menschen in (scheinbar zufällig) verschiedenem Maße von Entfremdungserfahrungen betroffen, abhängig von individuellen Lebenssituationen. Ihr Fallbeispiel der kichernden Feministin (Jaeggi 2005: 126) kann allerdings nicht ausreichend diskutiert werden, ohne die Bedeutung von Heteronormativität und romantischer Liebe für das Gelingen kapitalistischer Vergesellschaftung zu beleuchten. Der Frust des verzweifelten Wissenschaftlers von Pascal Mercier und seine Entfremdung können ebenso nur im Kontext einer vermehrt vermarktlichten Wissenschaft und ihrer prekären Arbeitsbedingungen analysiert werden; für Jaeggi scheinen dies sekundäre Analysen zu bleiben.

Jaeggi und Marx – ein Missverständnis?

Jaeggis Ausgangspunkt ist ihre Kritik des Paternalismus und Essentialismus, die sie an frühere Konzeptionen der Entfremdung wie der von Marx richtet. Sie argumentiert, dass anthropologische Konstanten wie das Marxsche Gattungswesen für eine Argumentation der Entfremdung schlichtweg keine Wirksamkeit enthalten:
„Die in diesem Zusammenhang häufig ins Spiel gebrachten anthropologischen Argumentationsfiguren zeigen noch in ihren methodisch reflektiertesten ›dünnen‹ Varianten die Problematik des Versuchs, normative Bezugspunkte aus der ›menschlichen Natur‹ zu gewinnen. […] [S]o sind doch gerade diese basalen Grundlagen wenig aussagekräftig, wenn es um die Gestaltung und Bewertung der Art und Weise geht, in der Menschen jenseits des bloßen Überlebens ihr Leben führen“ (ebd.: 48).
Allerdings ist erstens ihre Annahme, dass lediglich ein Jenseits des bloßen Überlebens für Entfremdung von Bedeutung wäre, irreführend. Das bloße Überleben der Menschen ist von Lohnarbeit und der Positionierung von Menschen in Produktionsverhältnissen abhängig. Erst diese bestimmen nach Marx auch die Wahrnehmung ihres eigenen Daseins und ihres Bewusstseins (vgl. MEW 13: 9).
Das ›Jenseits des bloßen Überlebens‹ bei Jaeggi ist nach Marx also eine Folge dessen, wie Menschen in einer gesellschaftlichen Formation ihr Überleben erst sichern. Die Sphäre eines Lebensstils von der Klassenposition zu trennen ist spätestens seit Bourdieus Studie über die feinen Unterschiede (Bourdieu 1982) ein soziologischer Fehlschluss. Die Annahme, dass Arten der Beziehungsweisen oder Selbstwahrnehmungen Teil einer von Unterdrückung befreiten Sphäre der Privatheit wäre, birgt große Gefahren der Missachtung gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Außerdem impliziert Jaeggis Annahme eines Essentialismus bei Marx eine falsche Lesart der Marxschen Frühschriften. So gibt es bei Marx eben gerade keine der gesellschaftlichen Organisation von Produktion vorgängige Natur des Menschen. Vielmehr wird in den Feuerbachthesen deutlich, dass das Wesen des Menschen immer nur dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse entspricht.
Sowohl Rosa als auch Jaeggi verfassen ihre Konzeptionen der Entfremdung nicht nur im Kontext des neoliberalen Strukturwandels von Arbeit. Beide reproduzieren durch verkürzte Analysen der aktuellen politischen Ökonomie auch dessen Ideologie. Wie über neue Formen der Steuerung die kapitalistischen Widersprüche als neues Verantwortungsregime in die Subjektivität der Beschäftigten verlagert und die neoliberale Logik der Eigenverantwortung kulturelle Hegemonie wird, so individualisieren Rosa und Jaeggi den Entfremdungsbegriff als Phänomen subjektiver Erfahrung.

Entfremdungskritik braucht Ideologiekritik

Es wurde argumentiert, dass sich Rosa und Jaeggi durch den Verzicht auf eine Auseinandersetzung mit der Kritik der politischen Ökonomie in ihrer Entfremdungskritik in die Fallstricke der neoliberalen Ideologie begeben. Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise spielen bei ihnen keine Rolle, eine Analyse der Klassengesellschaft findet nicht statt. Bei Rosa und Jaeggi finden sich durchaus Erweiterungen und wertvolle Kritiken an älteren Entfremdungskonzeptionen, wie die Kritik am Ökonomismus und Paternalismus. Die erneuerte Kritik von Rosa und Jaeggi formulieren Entfremdungskritik, die aus Perspektive der Akteur*innen verfasst wird, nicht aber von Philosoph*innen über diese. Dies ist dabei ebenso richtig wie falsch. Einerseits müssen die Vorstellungen der Menschen als sozial wirksame subjektive Wahrheiten ernst genommen und in soziologische Analysen einbezogen werden; andererseits verstellt sich bei einer oberflächlichen Beschreibung dieser Vorstellungen der Blick auf deren – nicht immer durch die Akteur*innen reflektierbare – soziale Strukturierung. Die Abstraktion der soziologischen Analyse wäre damit ihres Nutzens beraubt. Denn wenn
„Theorie nur artikulieren kann, wenn die anderen ohnehin schon wissen, dass es so ist, braucht man sie nicht mehr. Was theoretischen Paternalismus vermeiden will, schlägt am Ende auf die Theorie selbst zurück“ (Henning 2015: 28).
Wenn jeder Standpunkt der Menschen bedingungslos ernst und angenommen würde, wäre Ideologiekritik nicht mehr nötig noch möglich.
Hier begegnen sich trotz aller Unterschiede Rosa und Jaeggi. Unter dem Label der Kritischen Theorie berauben sie der Entfremdungskritik deren ideologiekritische Dimension. Diese radikale Opposition zur Gesellschaft ist bei Micha Brumlik (2016) jedoch der zentrale Aspekt der Entfremdungskritik; sie dürfe sich nicht versöhnend in die Gesellschaft einbeziehen lassen. Mit den Konzepten von Rosa und Jaeggi erscheint dies jedoch möglich, da sie die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft ausklammern und die Kritik der politischen Ökonomie zu einer Kritik der Lebensformen und subjektiven Verhaltensweisen auflösen. Allerdings kann daraus schwerlich kritische Wissenschaft oder Praxis entstehen, da notwendigerweise nur individuelle Konsequenzen gezogen werden können. Das Ende eines kritischen Entfremdungsbegriffs ist dann erreicht, wenn Entfremdung nicht mehr als historischer Prozess verstanden wird, über den kapitalistisch geformte soziale Strukturen auf das Bewusstsein der Menschen einwirken. Es gilt daher, einen prozesshaften Entfremdungsbegriff zu etablieren, der eine aktuelle strukturelle Analyse mit der Analyse der Auswirkungen ebendieser Strukturen auf das Bewusstsein der Menschen systematisch verbindet – an einem solchen Begriff mangelt es in der aktuellen Kritischen Theorie.

Literatur
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Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Brumlik, Micha (2016): Resonanz oder: Das Ende der Kritischen Theorie. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5, S. 120–123.
Dörre, Klaus (2009): Kapitalismus, Beschleunigung, Aktivierung – eine Kritik. In: Dörre, Klaus/Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut (Hrsg.): Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 181–204.
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Lessenich, Stephan (2009): Künstler- oder Sozialkritik? Zur Problematisierung einer falschen Alternative. In: Dörre, Klaus/Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut (Hrsg.): Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 224–244.
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Lukács, Georg (1986[1923]: Geschichte und Klassenbewusstsein. Neuwied: München.
Marcuse, Herbert (1964): Der eindimensionale Mensch. München: dtv.
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Marx, Karl (1966[1844]): Ökonomisch-philosophische Manuskripte. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke, Band 40 (MEW 40). Berlin: Dietz.
Marx, Karl (1971[1859]): Zur Kritik der Politischen Ökonomie. In: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke, Band 13 (MEW 13). Berlin: Dietz, S. 3-160.
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