Die Welt oder gar nichts

Ein Blick auf den nahenden Berliner 1. Mai – durch die Augen von Sebastian Lotzers Romanheld Paul.
Erschienen in: Neues Deutschland vom 27.04.2019

Paul wäre vielleicht ein wenig enttäuscht am Abend des nun wieder anstehenden 1. Mai in Berlin. Oder ratlos, zumindest ambivalent. Denn absehbar werden auf der alljährlichen »revolutionären« Demo, die diesmal im Stadtteil Friedrichshain beginnen und sich dann in Richtung Kreuzberg bewegen soll, spätestens am Endpunkt ein paar Flaschen, Steine oder Feuerwerkskörper fliegen sowie Mülleimer in Brand geraten. Und ebenso gewiss wird es einige robust knüppelnde »Zugriffe« geben – in welcher logisch-zeitlichen Reihenfolge auch immer.

Das ist vielleicht genug für die interessierte Presse, ein paar drastische Seite-eins-Fotos zu schießen. Ein Bürgerkriegsszenario aber, wie es beide Seiten in früherer Zeit zu beschwören pflegten, ist nicht in Sicht. Zwar ist die Beteiligung an jener »revolutionären« Demo in jüngeren Jahren gewachsen und werden auch 2019 Tausende Einsatzkräfte in die Hauptstadt beordert. Doch spricht es schon für etwas, dass die Polizei im rot-rot-grünen Berlin auf ihr übliches Vorgeplänkel mit tunlichst höchst alarmierter Vorabpressekonferenz verzichtet.

Unser Paul würde sich an diesem Tag in einem Zwiespalt bewegen. Denn die literarische Figur des linksradikalen Kreuzberger Autors, der als Sebastian Lotzer publiziert – ein tragischer Held des Bauernkriegs – ist ein alternder West-Berliner Militanter wie aus dem Bilderbuch. 2017 stellte er sich in Lotzers Erstling »Begrabt mein Herz am Heinrichplatz« vor. Das Publikum konnte ihm durch zwei Jahrzehnte voll Berliner Straßenschlachten folgen – vom Tod des Hausbesetzers Klaus-Jürgen Rattay am 22. September 1981 am Rande einer Demo über die Randale am 1. Mai 1989 bis zur teils bürgerkriegsartigen Räumung der 13 besetzen Häuser in der Friedrichshainer Mainzer Straße im November 1990.

Dieser Paul würde nun kaum bestreiten, dass die vitale, unmittelbar körperliche und sinnliche Erfahrung einer direkten Konfrontation mit der Staatsgewalt auf ihn immer wieder eine Faszination auszuüben vermochte: »In den Momenten, in denen die Affekte überhand gewannen, in denen all das Angestaute endlich heraus musste, die Bullen kassierten und die Scheiben zu Bruch gehen mussten, war überall Leben«, legt Lotzer der Figur in den Mund. Einerseits.

Andererseits kann auch Paul so nicht mehr weiter. Im nun erschienenen zweiten Band seiner fiktiven Lebensgeschichte hat das Sujet der politischen Militanz kaum etwas Lebendiges mehr. Es ist umstellt von Depression, Verzweiflung und Tod. Das Buch ist betitelt mit »Die schönste Jugend ist gefangen« – ein Slogan, der in den 1990ern auf einem Büchlein prangte, das die Freilassung von Irmgard Möller forderte, die Überlebende jener Nacht von Stammheim, in der die erste Generation der RAF den Tod fand. Und entsprechend beginnt der Roman mit dem bis heute nicht völlig geklärten Tod des RAF-Mitglieds Wolfgang Grams 1993 auf dem Bahnhof von Bad Kleinen bei Schwerin – um mit einer Szene zu enden, in der der Romanheld in der Jetztzeit am Grab Ulrike Meinhofs sinniert. Erschossen wird sein palästinensischer Mentor und Genosse in Beirut; seine Liebe Basima trifft er im syrischen Bürgerkrieg wieder, doch stirbt auch sie an einer Kugel.

Es ist aber nicht nur diese »Nähe zu den toten Genossen«, die den Romanheld so düster stimmt. Das Buch begleitet Paul auf einer rastlosen Suchbewegung durch Raum und Zeit, eine Suche nach wirklicher, entschlossener, authentisch antagonistischer Politik, nach klaren Fronten. Das Frankreich der Gelbwesten, Bilder vom Arabischen Frühling, die militanten Auseinandersetzungen um die Räumung eines besetzten Hausprojekts in der Friedrichshainer Liebigstraße – all diese revolutionären Restsplitter setzt Paul wie unwillkürlich zu einem homogenen Bild zusammen: »The good old times, der Heinrichplatz, der Tahrir Platz, die Szenerie am Ostbahnhof verschmolzen zu einem einzigen Konglomerat.« Schlachtenlärm macht Paul stets Hoffnung. Und doch spürt er zugleich, dass dieses Bild nicht mehr stimmt. Dass die Straßenschlachten der 1980er Jahre an ein Ende gekommen sind, dass all diese Scharmützel viel Energie kosten, aber man in ihnen nichts gewinnt.

Dass also dieser Paul die »revolutionäre« Maidemo aus Neugier zumindest sehr genau beobachten wird, darf man wohl annehmen. Dass Paul von dieser Demo inspiriert sein könnte, dass er dort einen Hauch jenes revolutionären Zuhauses verspürt, das zu finden ihn kreuz und quer durch die kämpfende und schlafende Welt hetzt, hingegen wohl eher nicht. An allfälligen Konfrontationen mit der Polizei dürfte den desillusionierten und doch immer leicht entflammbaren Militanzromantiker das Begrenzte, das von Beginn bis Ende allseits Plan- und Vorhersehbare stören – und am Gesamtkonzept könnte ihn womöglich das Wohlorganisierte, die Bündnisorientierung zum Schmunzeln bringen, also all das, was die Gruppen hinter der Demo unter deren Repolitisierung verstehen und als Neustart propagieren.

Die Demonstration solle »vielfältig sein« und »Kämpfe zusammenführen«, heißt es etwa bei der »Mai-Steine-Kampagne«. Von den jüngst streikenden Frauen über die Mietproteste bis zu migrantischen Gemeinschaften, Kämpfe um autonome Freiräume und schlicht wütende Jugendliche: Alle sollen zusammenkommen. Der 1. Mai sei ein »Mosaikstein«, um breite »Gegenmacht von unten« aufzubauen. Ähnlich lässt die mitorganisierende »Radikale Linke Berlin« verkünden: »Um die Menschen für revolutionäre Ideen zurückzugewinnen, müssen wir im Arbeits- und Lebensalltag präsent sein. In den Kämpfen im Stadtteil, im Betrieb genauso wie in den Kämpfen gegen Sexismus und Rassismus«. Paul, soweit wir ihn kennen, könnte all das wohl unterschreiben, doch sähe er darin letztlich bloß eine neue Verkleidung des jährlichen Happenings um den traditionellen Kampftag der Linken.

Am Ende des Romans bleibt Paul nur Trauer und Einsamkeit. Sein Wunsch, in Syrien zu kämpfen, bleibt ihm verwehrt. So kommt er zurück nach Deutschland und streift – wie aus Gewohnheit – noch ein wenig zwischen den Protesten der Geflüchteten am Berliner Oranienplatz und den Ausschreitungen zu G20 in Hamburg umher. Doch nirgends ist er beheimatet mit seiner Sehnsucht nach radikalem Antagonismus: »Kein Ort. Nirgends«, wie es bei Christa Wolf so traurig heißt.

Der Romanheld Paul, einmal in der Gegenwart angekommen, ist damit wohl auserzählt – doch ist seine Geschichte abgeschlossen? Oder ist da noch ein neuer Anfang? Kann er doch noch zu derjenigen Sorte von Militanz finden, die im Teetrinken mit türkischen Muttis in jener Holzhütte am Kottbusser Tor bestehen kann, die dort seit Jahr und Tag offene Ohren für Alltagsprobleme anbietet? Es fällt auf, dass manche Orte des Widerstands fehlen in seiner revolutionären Weltreise. Etwa der mexikanische Bundesstaat Chiapas, wo in den 1990ern die sanfte Indigenen-Guerilla EZLN zwar Waffen zeigte, aber kaum je kämpfte – sondern sich in einer Radikalität des Zuhörens übte. Vielleicht verschlägt es Paul einmal dorthin, auf der Suche nach neuen Spuren.

Der Roman endet mit dem Satz »Le Monde ou rien«. Es geht ums Ganze, »die Welt oder gar nichts«. Das ist ein schöner Satz, auch in seinem Pathos. Doch ist es auch eine Parole, die Zwischentöne zum Schweigen bringt. Und braucht man nicht eben diese gerade für militante Politik? Muss man sich nicht mit gegenwärtigen Kämpfen auseinandersetzen und deren Widersprüche aushalten? Wer das nicht kann, wer zu ungeduldig ist, wer stets nur von außen und oben kommt, landet vielleicht mitunter genau bei einer Position, die Lotzer seinem Paul in den Mund legt: »Vielleicht wollte er gerade aber einfach nur in dieser Pose des Außenseiters verharren, weigerte er sich, irgendwo dazuzugehören, weil er befürchtete, grau zu werden. Beliebig, austauschbar.«

Sich von dieser Angst lähmen zu lassen und nichts zu tun, ist indes die schlechteste aller Alternativen. Denn dann bleibt am Ende wirklich nur der – politische – Tod.