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Wie muss ein Feminismus aussehen, der mehr als den Kampf um Identitäten im Blick hat? Seit Simone de Beauvoir hat sich viel getan in der Theoriebildung um den Feminismus. Statt Klassenpolitik und Kapitalismuskritik spielt derzeit mehr denn je die Identitätsfrage eine
Rolle. Profeministisch – das scheint aktuell eher etwas, das man ist und weniger etwas, wonach man handelt. Die Herausgeberinnen des Bandes „Materializing Feminism“ wollen dem etwas entgegensetzen. Im Gespräch er­örtern sie die Wirksamkeit von Frauenstreiks, betonen die Notwendigkeit von Beziehungen und rechnen ab mit der Idee, dass Frauen im Kapitalismus lediglich mit männlichen Privilegien ausgestattet werden müssen – anstatt diese gänzlich abzuschaffen.
Erschienen in: Der Freitag 11/2019

der Freitag: „To Materialize“ bedeutet manifestieren, gegenständlich machen. Welche blinden Flecken im Feminismus wollen Sie aufdecken?
Haller: Wir wollen den Rückzug auf die eigene Identität skandalisieren und zeitgleich erklären, dass das aktuelle Bedürfnis nach Selbstverwirklichung auch Ausdruck davon ist, dass die gegenwärtigen Verhältnisse immer weniger als veränderbar gelten. Es ist uns wichtig, diesen Zusammenhang aufzudecken: Je unantastbarer der Kapitalismus erscheint, desto wichtiger wird die eigene angebliche Handlungsfä­higkeit, die wir uns durch individuelle Leistung beweisen wollen.
Beier: Dabei geht es uns gar nicht so sehr darum, die Selbstverwirklichung zu kritisieren, sondern Feminismus als kollektive Praxis zu stärken, in der es um ein besseres Leben für alle geht.
Haller: Das ist unser zentrales Anliegen! Wir wollen dem liberalen Feminismus etwas entgegensetzen.

Was meinen Sie damit?
Haller: Der liberale Feminismus, der in unserer Gesellschaft derzeit eine Monopolstellung hat, appelliert an uns Frauen, weibliche Zuschreibungen zurückzuweisen. Frauen sollen sich durch Lohnarbeit in die Gesellschaft integrieren. Fürsorgetätigkeiten würden nur der Karriere schaden und Frauen daran hindern, so erfolgreich wie Männer zu werden. Vielleicht aber ist gar nicht die Fürsorge das Problem, sondern eine Wirtschaft in der ausgerechnet die Menschen ein Problem bekommen, die Fürsorge leisten. Gleichzeitig ist weibliche Erwerbsarbeit doch durchaus ein Fortschritt.
Haller: Klar. Wir selbst sind Nutznießerinnen der Errungenschafen des liberalen Feminismus. Aber das Plädoyer an Frauen, für ihr eigenes Leben Verantwortung zu übernehmen, ohne einen Hinweis darauf, dass die Verantwortung für Andere überwiegend von Frauen übernommen wird, hat den faden Beigeschmack von Ignoranz. Materialistische Feministinnen versuchen, die Verschaltung der ökonomischen Ausbeutungsverhältnisse im Kapitalismus mit dem Geschlechterverhältnis theoretisch zu fassen.
Beier: Diese Perspektive ist nicht neu. Bereits vor über 100 Jahren wurden Streiks von Textilarbeiterinnen in New York 1908/9 zum Anlass genommen den internationalen Frauenkampftag zu fordern. Hier wurde das Zusammenwirken von Patriarchat und Kapitalismus handfest. Der theoretische Mehrwert des materialistischen Feminismus liegt darin, dass er die Verwobenheit von Wissen und Macht mit aufnimmt. Auch wenn die Verhältnisse durch Strukturen geprägt sind, werden diese von Menschen hergestellt und sind daher veränderbar. Gleichzeitig sind Geschlechterverhältnisse im Kapitalismus etwas sehr Spezifsches: Sie lassen sich nicht alleine durch ein anderes Wirtschafssystem auflösen.

Wer ist das Subjekt des Feminismus?

Haller: Das nach Freiheit strebende Subjekt. Nur dass Freiheit hier etwas anderes meint als im liberalen Feminismus. Anstatt dem männlichen Phantasma von Autonomie zu folgen, entsteht weibliche Freiheit dadurch, dass Frauen verbindlich Verantwortung füreinander übernehmen. Beziehungen machen frei – nicht die Befreiung aus Beziehungen. Im Kapitalismus sind es doch immer wieder Trennung und Grenzziehungen, die von Frauen einen Vereinbarkeits­-Spagat abverlangen. Die Trennung zwischen Körper und Geist, zwischen Emotion und Rationalität oder eben Erwerbsarbeit, Familie und Freunden. Durch Beziehungen gelingt es Grenzen zu überwinden.

An einer Stelle heißt es, der Feminismus müsse „auf die Straße“ gebracht werden. An wen richtet sich diese Aufforderung?
Beier: Uns war es wichtig, nicht nur ein wissenschafliches Buch zu schreiben, sondern Frauen aus der Praxis zu Wort kommen zu lassen. Und gerade die Interviews machen deutlich, wie bereichernd das ist. Zentral sind die unterschiedlichen Perspektiven in den Interviews für Debatten
innerhalb der radikalen Linken. Da wird viel angesprochen, was gerne diffamiert wird. Etwa Frauenräume als Freiräume. Gleichzeitig ist die Interviewcollage auch sehr anschlussfähig für Feministinnen aus anderen Spektren, weil darin deutlich wird, wie verschiedene Herrschafsverhältnisse zusammenhängen und es keine Alternative dazu gibt, sich kollektiv zu organisieren.

Derzeit wird auch viel über „neue Klassenpolitik“ gesprochen. „Der Freitag“ hatte kürzlich eine Themenausagabe dazu (Nr. 46/2018). Wie kann ein materialistischer Feminismus dabei helfen, die Pseudo-Unterscheidung zwischen Identität und Klasse zu überwinden?
Beier: Die Frage nach der sozialen Reproduktion betrifft den Kern der Gesellschaft. Fragen nach der Identität sind nicht losgelöst von Fragen nach den materiellen Produktions­ und Reproduktionsverhältnissen. Allerdings haben wir Schwierigkeiten mit dem Begriff der Identitätspolitik, weil er so diffamierend verwendet wird und soziale Kämpfe gegeneinander ausspielt.
Haneberg: Produktiv im Sinne eines materialistischen Feminismus ist, Identität als Ausgangspunkt der politischen Verbündung zu nutzen – so war es wichtig, die gemeinsame Ausbeutungserfahrung in weiblichen Lebensrealitäten zu erkennen und sich als Frauen politisch zu organisieren, ob in der „Lohn für Hausarbeit“­-Bewegung in den 1970er Jahren oder im Frauenstreik 2019.

Wie können feministische Kämpfe zur Veränderung der Gesellschaft beitragen. Welche Rolle messen Sie dem Frauenstreik zu?
Beier: Der Frauenstreik ist ein gutes Beispiel dafür, wie materialistischer Feminismus praktisch werden kann. Er stellt unsere unmittelbaren Arbeits­ und Reproduktionsbedingungen ins Zentrum und versucht davon ausgehend gesellschafliche Transformationsprozesse anzustoßen, die allen Menschen zu Gute kommen. Ich bin mir nicht sicher, wie groß und wirkmächtig der Frauenstreik dieses Jahr wird. Da können wir noch viel von Spanien, Argentinien, Polen und anderen Ländern, in denen es Frauenstreikbewegungen gibt, lernen.
Haller: Wichtig ist doch, dass Raum entsteht, indem wir Beziehungen aufauen können und uns dafür sensibilisieren, was uns an einem befreiten Leben hindert. Fürsorge zu bestreiken finde ich schwierig, weil sich die Aktivität damit auch gegen uns selbst richtet. Aber wir gewinnen Zeit für Beziehungen, die wir aufauen müssen, wenn wir diese Gesellschaft verändern wollen