Zwischen Schlussstrich und Aufarbeitung

Die Roten Khmer waren für den Tod von mindestens 1,7 Millionen Menschen verantwortlich. Zwei ihrer Anführer sind in Kambodscha nun auch wegen Genozids verurteilt worden. Sie wollen davon nichts gewusst haben. Der Prozess wirft auch ein Schlaglicht auf die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen im Land.

In Kambodscha sind zwei Anführer der Roten Khmer wegen Völkermordes verurteilt worden. Der 92-jährige ehemalige Chefideologe Nuon Chea (»Bruder Nummer 2«) und der damalige Staatschef des »Demokratischen Kampuchea« Khieu Samphan (87) wurden jeweils zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. In der Hauptstadt Phnom Penh verlas der Vorsitzende Richter Nil Nonn das Urteil in einem Gerichtsaal, der gefüllt war mit vielen Familien der mindestens 1,7 Millionen Menschen, die zwischen 1975 und 1979 durch Massenerschießungen, Hungersnöte und brutale Arbeitslager zum Tode gekommen waren.

Im Urteil wurden ausführlich einige der schrecklichsten Verbrechen des Regimes beschrieben, insbesondere diejenigen, die im berüchtigten S-21-Foltergefängnis Tuol Sleng durchgeführt wurden. Hier wurden zwischen 1976 und 1979 insgesamt rund 18.000 Menschen gefangen gehalten und viele von ihnen gefoltert. Mindestens 12.000 überlebten die Folter nicht. Bei der Befreiung durch vietnamesische Truppen 1979 lebten nur noch 23 Häftlinge, die Hälfte erlag kurz darauf ihren Strapazen. Das Gericht sah es erwiesen an, dass die Taten im Gefängnis unter direkter Anweisung der »oberen Rängen [der Roten Khmer] einschließlich Nuon Chea« durchgeführt wurden, der zwei Jahre lang dem S-21 in Phnom Penh vorstand. »Die Kammer stellt fest, dass Gefangene mit Handschellen gefesselt und die Augen verbunden in Befragungsräume gebracht wurden«, so Nil Nonn. Die Vernehmungsmethoden beinhalteten »Schläge mit Stöcken, Steinen, Peitschen, elektrische Schläge und Erstickungsversuche ebenso das Herausziehen von Zehen- und Fingernägeln«, ergänzte der Richter. Im Urteil wurde betont, dass Khieu Samphan verantwortlich sei für eine Politik, die »massiv« zum Tod von Zivilist*innen geführt habe, »einschließlich der Millionen von Arbeiter*innen, die in Arbeitslagern zum Bau von Dämmen und Brücken« gezwungen wurden. Ebenso sahen die Richter des Tribunals in der Urteilsverkündung den Tatbestand des Genozides bei den Tötungen von ethnischen Vietnames*innen und der Minderheit der muslimischen Cham erfüllt. Hinzu kommen Verbrechen an buddhistischen Mönchen und Männern und Frauen, die zwangsverheiratet worden waren.

Zurück in die Steinzeit

Die Terrorherrschaft der Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 war eine der größten Gräueltaten des 20. Jahrhunderts. Die Roten Khmer waren eine maoistisch-nationalistische Guerillabewegung, die 1975 in Kambodscha an die Macht kam, nachdem das Land massiv durch den Vietnamkrieg zu leiden hatte. In Teilen verlief der Ho-Chi-Minh-Pfad durch Kambodscha und viele vietnamesische Guerillakämpfer*innen befanden sich im Land, was die USA dazu veranlasste, Kambodscha mit mehr als 500.000 Tausend Tonnen massiv zu bombardieren.

Nach Kriegsende versuchten die Khmer Rouge eine maoistische Bauerngesellschaft aufzubauen. Dafür wurden die Städte entvölkert und die Bevölkerung in große Kollektive aufs Land getrieben. Geld wurde abgeschafft, Schulen geschlossen und lediglich für die Subsistenz produziert. Alles was ›bürgerlich-kapitalistisch‹ war, sollte verschwinden und so wurden Bücher verbrannt und Brillen zerstört. Binnen kürzester Zeit verwandelte sich das Land in ein gigantisches Arbeits- und Gefangenenlager. Tagesarbeitszeiten auf den Reisfeldern von mehr als zwölf Stunden waren die Regel. Dazu kam massive Überwachung der Arbeiter*innen. Wer zu spät zur Arbeit erschien, konnte hingerichtet werden. Sprechen während der Arbeit war verboten. Durch Hungersnöte, Zwangsarbeit, Folter und Ermordungen kam in dem kleinen südostasiatischen Land während der Herrschaft der Roten Khmer knapp ein Viertel der damaligen Bevölkerung ums Leben.

Im Januar 1979 wurden die Roten Khmer von vietnamesischen Truppen entmachtet, die dafür in Kambodscha einmarschiert waren. Die Roten Khmer kämpften im Untergrund bis Anfang der 1990er Jahre weiter. Der Machthaber Pol Pot musste sich für seine Taten nie vor einem nationalen oder internationalen Gericht rechtfertigen. Er starb straffrei 1998. Die nun Verurteilten zählten zur Führungsriege der Roten Khmer. »Bruder Nummer 2« Nuon Chea wurde vom Gericht als »Pol Pots rechte Hand« bezeichnet, der Ex-Staatschef Khieu Samphan war »Bruder Nummer 4«.

Das Tribunal

Erst 30 Jahre nach dem Ende des Regimes nahm im Juli 2006 das sogenannte »Rote Khmer-Tribunal« (offiziell ›Außerordentliche Kammern an den Gerichten von Kambodscha‹; Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia – ECCC) seine Arbeit auf, um die Verbrechen des Regimes aufzuklären und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen. Diese Verzögerung lag nicht zuletzt am Kalten Krieg. Erst seit den 1990er Jahren bemühte sich die UNO um die juristische Aufarbeitung, die von den westlichen Staaten und insbesondere Thailand mitunter aktiv behindert wurde. In den ECCC arbeiten kambodschanische und internationale Jurist*innen zusammen. Damit ist hat es eine einzigartige hybride Struktur. Der Oberste Gerichtshof besteht aus vier kambodschanischen und drei internationalen Richtern, der Strafgerichtshof ist besetzt mit drei kambodschanischen und zwei internationalen Richtern, darunter der deutsche Richter Michael Bohlander. Die Folge dieser komplizierten Arbeitsweise, verbunden mit in Teilen erheblichen Sprachbarrieren, sind häufige Uneinigkeiten zwischen internationalen und nationalen Richtern. Durch eine spezielle Mehrheitsregel wird jedoch sichergestellt, dass mindestens ein internationaler und zwei kambodschanische Richter einer Entscheidung zustimmen müssen, damit sie gültig wird.

Dabei ist das Mandat des Tribunals klar geregelt: Es bezieht sich ausschließlich auf die Führungskräfte des »Demokratischen Kampuchea« in der Zeit der Herrschaft der Roten Khmer von 1975 bis 1979 – damit weißt es durchaus Parallelen zu den Nürnberger Prozessen 1945/46 nach dem Nationalsozialismus auf. Eine weitere Parallele ist die unklare rechtliche Grundlage. Damals wurde (nachträglich) der Tatbestand »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« eingeführt, die ECCC stehen nun vor dem Problem, dass die Völkermordkonvention bei Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung nur bedingt greift. Daher wird – erstmalig vom französischen Politologen Jean Lacouture eingeführt – in den Prozessen von »Auto-Genozid« gesprochen.i

Das Gericht verhandelt seit 2010. Als erster Angeklagter stand der Leiter des Foltergefängnisses Tuol Sleng vor dem Tribunal. Kaing Guek Eav alias »Kamerad Duch« wurde 2010 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter und Mord verurteilt. Seine Haftstrafe wurde 2012 auf lebenslang ausgeweitet. »Bruder Nummer 3«, der Außenminister Ieng Sary verstarb während seines Prozesses 2012. Der Prozess gegen seine Frau, die ehemalige Sozialministerin, Ieng Thirith, wurde ausgesetzt. Ihre Alzheimer-Erkrankung machte sie verhandlungsunfähig. Sie starb 2015.

Die beiden nun Verurteilten standen 2014 schon einmal vor dem Tribunal. Damals wurden sie bereits wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mords und Verschleppung ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilt. Da die verschiedenen Anschuldigungen so schwer wogen, waren mehrere Verfahren angesetzt worden.

Das Tribunal steht dabei nicht nur vor der Aufgabe, über die Angeklagten zu befinden, in ihm ist auch eine genuin gesellschaftliche Ebene eingeflochten. »Es geht um Gerechtigkeit für die Opfer und darum, die Wahrheit zu herauszufinden und zu klären, was damals genau passiert ist«, so der Pressesprecher der ECCC Neth Pheaktra. Das Tribunal dient nicht nur der Urteilsfindung, sondern auch der gesellschaftliche Aufarbeitung im Land. Seit dem ersten Verhandlungstag waren mehr als eine halbe Million Besucher*innen bei den Verhandlungen anwesend. Die ECCC organisierten auch Fahrten für die lokale Bevölkerung. Dabei waren die Hälfe der Menschen Täter*innen und Opfer, die andere Hälfte war erst nach dem Regime der Roten Khmer geboren.

Ungewisse Zukunft

Youk Chhang, der Leiter des Documentation Center of Cambodia, nannte die Urteile »eine Anerkennung des schrecklichen Leids« der Opfer. Ihm stimmte der Vize-Asienchef von Human Rights Watch Phil Robertson zu: »Durch die Verurteilung dieser beiden hochrangigen Anführer der Khmer Rouge hat das Gericht die unbestreitbare Wahrheit bekräftigt, dass in Kambodscha ein Völkermord stattfand, während die Welt weggeschaut hat«. Er kritisierte jedoch, dass andere mutmaßliche Verantwortliche wahrscheinlich nie zur Verantwortung gezogen würden. Denn nach dem aktuellen Urteil scheint die Zukunft der ECCC ungewiss. Dies liegt vor allem am Widerstand des amtierenden Premierministers Hun Sen, der das Land seit 1985 regiert. Er selbst war hochrangiger Offizier der Roten Khmer und lief 1977 zu den Vietnames*innen über. Er erklärte mehrfach, dass er zukünftig keine weiteren Verhandlungen zulassen werde. Weitere Details über die Vergangenheit würden zur Instabilität des Landes beitragen und gar einen neuen Bürgerkrieg bedeuten können, so Hun Sen. Bereits vor Jahren forderte er ein Ende der Prozesse: »Es ist Zeit, die Vergangenheit zu begraben«. Gleichzeitig ließ er seinen Stellvertreter Bin Chhin zum aktuellen Verfahren in einer Pressemeldung dessen »tiefste und aufrichtigste Dankbarkeit« für Hun Sen aussprechen. Der Premierminister habe dem Gerichtshof immer höchste »Beachtung geschenkt, indem er ihn aus eigener Initiative« unterstützt und kontinuierlich zu seiner Finanzierung beigetragen habe.ii Ebenso fordern Kritiker*innen im Land die UNO auf, das mittlerweile fast 300 Mio. US-Dollar teure Tribunal einzustellen. Die Prozesse sind auch massiv bedroht durch die Korruption in der kambodschanischen Justiz oder Regierungsbeamte, die sich weigerten als Zeug*innen auszusagen oder von der Regierung daran gehindert wurden. Kambodschanische Richter des Tribunals sollen darüber hinaus massiv die Arbeit der internationalen Ermittler*innen sabotiert haben und ihnen teilweise Akteneinsicht verwehrt haben, wie es aus informierten Kreisen heißt. Teile der heutigen Richter sind einstige Getreue des Terror-Regimes und handeln offenbar im Dienste ihres Regierungschefs Hun Sen.


Die Schatten der Vergangenheit

Vergleiche mit dem deutschen Nationalsozialismus sind immer mit Vorsicht zu genießen. Relativierungen oder Verharmlosungen sind häufig ihr impliziter Zweck. Doch nicht nur die oben erwähnten Probleme der rechtlichen Grundlage weisen eine Parallele auf, auch im Fall der Selbstwahrnehmung der Verantwortlichen und der Aufarbeitung finden sich eindeutige Analogien. Während der Nürnberger Prozess erklärte 1946 Hermann Göring, der immerhin im Juli 1941 Reinhard Heydrich mit der Organisation der sogenannten ›Endlösung der Judenfrage‹ beauftragt hatte, dass diese Verbrechen vor ihm verschleiert worden seien und er »diese furchtbaren Massenmorde auf das Schärfste« verurteile. Niemals habe er selbst einen Mord befohlen.

Nahezu wortgleich äußerten sich nun Nuon Chea und Khieu Samphan in Kambodscha. Beide leugneten zwar nie ihre zentrale Rolle im Regime der Roten Khmer. Vom Genozid oder von Folterungen in Tuol Sleng wollten beide aber nichts gewusst haben. In einem Interview mit dem Greenpeace Magazin vor 10 Jahren äußerte sich Nuon Chea – zur Erinnerung: zweiter in der Rangfolge der Roten Khmer – unmissverständlich: »Ob getötet wurde oder nicht, weiß ich nicht. Es kann Tötungen gegeben haben. Aber Massenmord?«iii Sie leugnen, von den Gräueltaten gewusst zu haben. Im Sommer 2017 hat Khieu Samphan in seinem Schlussplädoyer jegliche Verantwortung für den Tod von Millionen seiner Landsleute zurückgewiesen. »Ich weise die Bezeichnung Mord kategorisch zurück«, sagte er. Nuon Chea bezeichnete die gegen ihn gerichteten Vorwürfe als »Fake News«. Hier wie dort scheint zu gelten: Die Verbrecher waren immer die anderen.

Dies zeigt sich auch in der Gestaltung der Ausstellung im Foltergefängnis S-21, in der die Verantwortung der Verbrechen in erster Linie der Führungsriege der Roten Khmer allein übertragen wird. Dies weckt Erinnerung an die Diskussionen in der frühen Bundesrepublik, in der die Entnazifizierung in der deutschen Bevölkerung als ungerecht empfunden wurde und der Wunsch aufkam, einen ›Schlussstrich‹ unter die Vergangenheit zu ziehen. Eine breite und weitergehenden Vergangenheitsbewältigung wurde weder hier noch da durchgeführt.

Wie weiter?

Die gesellschaftliche Aufarbeitung der Schreckensherrschaft läuft alles andere als problemlos. Der Friedensprozess in Kambodscha hat noch einen weiten Weg vor sich. Rund 20 Prozent der Kambodschaner*innen leidet an einer Posttraumatischen Belastungsstörung als Folge der Gräueltaten. Darüber hinaus sind Landraub, fehlende Arbeitsrechte und Korruption allgegenwärtige und weitverbreitete Probleme. Seit 2017 hat sich die politische Situation noch zugespitzt. Im Vorfeld der Wahlen Mitte 2018 wurde die größte Oppositionspartei aufgelöst, zahlreiche ihrer Vertreter*innen mussten das Land verlassen oder wurden verhaftet, verschiedene Tageszeitungen mussten schließen, Radiosender wurden eingestellt. Hun Sens Volkspartei CPP regiert das Land weiterhin alleine – mit einem zunehmend autoritäreren Kurs. Zwar ist Kambodscha seit 1993 offiziell eine Mehrparteiendemokratie. Doch hat die CPP eine fast uneingeschränkte Kontrolle über das Land.iv Eine politische Aufarbeitung ist nicht in ihrem Sinne.

Doch auch die Wissenschaft hinkt weiter hinterher. Nach fast 40 Jahren seit dem Genozid ist der Forschungsbedarf weiter groß. Das betrifft Projekte, die sich auf Kambodscha beziehen, aber auch jene, die den Unterschied zu anderen Genoziden untersuchen. So fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) seit 2014 ein Projekt zum Thema »Ungleiche Opfer. Anerkennungsprozesse nach genozidaler Massengewalt. Deutschland, Ruanda und Kambodscha im Vergleich«. 2018 begann ein weiteres DFG-Projekt zum Thema »Folter und Körperwissen«. Wichtig sind auch weiterhin Forschungen zum Umgang der kambodschanischen Gesellschaft mit diesem Teil ihrer Geschichte.

In diesem engen Rahmen konnte das Tribunal einiges bewegen: So wurde beispielsweise erreicht, dass Aussagen von Zeug*innen aus dem ersten Verfahren jetzt auch im zweiten gegen die selben Beschuldigten verwendet werden konnten. Ein wichtiger Punkt, der sich auf dem Engagement der Nebenklage und der Zivilgesellschaft gründet, ist, dass der anfangs nicht berücksichtigte Aspekt der sexuellen und geschlechtsspezifischen Gewalt verstärkt in die Ermittlungen aufgenommen wurde.v Doch bleibt das Tribunal nicht unumstritten. Insbesondere für Jurist*innen war es von Anfang an ein Fehler, dass die ECCC ›lediglich‹ ein kambodschanisches Gericht mit internationaler Beteiligung sind, aber nicht wie der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ein genuin internationales Gericht.

Bei aller Kritik an Kambodscha darf man jedoch nicht vergessen, dass die westlichen und ASEAN-Staaten ihre Rolle während des Bürgerkriegs und des Genozids überhaupt nicht aufgearbeitet haben.

Literatur

iChandler, D. (2000): Brother Number One: A Political Biography of Pol Pot. Westview Press. S. 3f.

iiRemarks by His Excellency Dr BIN Chhin, on the delivery of the Trial Judgement in Case 002/02 against NUON Chea and KHIEU Samphan. In: http://pressocm.gov.kh/en/archives/38798.

iiiHaselberger, S. (2007): Tribunal gegen Pol Pots Schergen. In: https://www.greenpeace-magazin.de/tribunal-gegen-pol-pots-schergen

ivWimmer, C. (2017): Schluss mit lustig. In: https://jungle.world/artikel/2017/45/schluss-mit-lustig.

vYe, B. (2014): Transitional Justice Through the Cambodian Women’s Hearings. In: http://cambodialpj.org/wp-content/uploads/2014/05/DCCAM_CLPJ_Ye.pdf.