»Majestät, gengs’ heim, Revolution is!«

Simon Schaupp hat ein spannendes Tagebuch der bayerischen Revolution verfasst
Erschienen in Neues Deutschland vom 1.11.2018

Vom ersten Satz an ist man gefesselt, Leser und Leserinnen werden förmlich hineingezogen in die Geschichte der Revolution in Bayern vor 100 Jahren. »München stinkt. Es ist heiß an diesem Tag und in den Straßen liegen Abfälle«, erfährt man über den Tag, an dem die 738 Jahre lang herrschende Dynastie der Wittelsbacher gestürzt wird. König Ludwig III. wird während eines Spaziergangs von Arbeitern angesprochen: »Majestät, gengs’ heim, Revolution is!«

Nach einer Kundgebung mit rund 60 000 Teilnehmern stürmen in München Arbeiter und Arbeiterinnen sowie Soldaten, geführt von Kurt Eisner, die Kasernen und Regierungsgebäude in München, stürzen die Monarchie und rufen die Volksrepu-blik aus. So geschehen am 7./8. November 1918.

Simon Schaupp beginnt sein spannendes Buch mit den Januarstreiks 1918, als in ganz Deutschland Arbeiter und Arbeiterinnen für ein Ende des Krieges und die Einführung der Demokratie die Betriebe besetzten und auf die Straße gingen. Auch in Bayern sorgten diese ersten machtvollen Friedenskundgebungen für eine breite Politisierung der Bevölkerung. Schaupp schildert, wie der Rätekongress de facto die Regierungsgeschäfte übernahm und die bürgerlichen Landtagsabgeordneten panikartig flohen, um unter der Führung der SPD eine Gegenregierung in Bamberg zu bilden. Am 7. April 1919 wird die Räterepublik ausgerufen – sie markiert die dritte Phase der Revolution in Bayern. Vor allem Kommunisten organisieren die Verteidigung der Rätemacht gegen innere und äußere Feinde. Abschließend berichtet der Autor über die Niederschlagung der Räterepublik und den »Weißen Terror« bis Ende August 1919.

Das Buch des Soziologen offeriert nicht fundamental neue historiographische Erkenntnisse. Was das Buch ausmacht, ist die Perspektive, die es einnimmt. Die Anlehnung des Titels an Magnus Enzensbergers Buch »Der kurze Sommer der Anarchie« über die spanische Revolution scheint bewusst getroffen zu sein. Schaupp geht ähnlich vor wie jener: Gestützt auf zahlreiche zeitgenössische Quellen, Zitate, Plakate und Bilder zeichnet er minutiös den Ablauf der Ereignisse vom 26. Januar 1918 bis zum 1. September 1919 nach. Dafür hat er gut recherchiert. Der ungeheure Detailreichtum überfordert nicht, sondern veranschaulicht die Ereignisse und macht Geschichte konkret erfahrbar. Nahezu hautnah begleitet der Leser drei Protagonisten, erlebt das Geschehen mit deren Augen. Da ist einerseits Hilde Kramer, die als 18-Jährige bereits zum innersten Kreis der Münchner Revolution gehört, sodann der anarchistische Lyriker und Publizist Erich Mühsam sowie der Schriftsteller und Revolutionär Ernst Toller. Mit ihnen nimmt man an Demonstrationen und Gesprächen teil. Die kurzen Stakkato-Sätze Schaupps unterstreichen die Unmittelbarkeit der jeweiligen Situation. Alle Sinne sind angesprochen: Die Revolutionäre sind übermüdet, gezeichnet von Krankheit, gelb ihre Gesichter. In den Bierkellern und Caféhäusern geht es turbulent her, ist es muffig und laut.

Schaupp verwebt die Lebensläufe seiner Helden mit den historischen Ereignissen, deutlich werden Zusammenhänge zwischen individuellem Handeln und dem Großen und Ganzen. Nicht zufällig wählte Schaupp seine drei Protagonisten – sie stehen für die drei revolutionären Gruppen links der Sozialdemokratie, welche die Revolution in Bayern maßgeblich beeinflussten: Parteikommunismus, Anarchismus und Sozialismus.

Oskar Maria Graf hat in seiner ehrlichen, schonungslos offenen Biografie »Wir waren Gefangene« packend wie berührend seine Erlebnisse zu Ende des Ersten Weltkriegs und in der Münchner Räterepublik verewigt. Er gehört zwar einer anderen Liga als Schaupp an, doch wandeln beide auf ähnlichen Pfaden.

Simon Schaupp: Der kurze Frühling der Räterepublik. Ein Tagebuch der bayerischen Revolution. Unrast-Verlag, 304 S., geb., 19,80 €