Brillenputztuch

Er war Engels’ Brieffreund, Gramsci öffnete er die Augen: eine Einladung, Antonio Labriola zu lesen.
Erschienen in: Der Freitag 33/2018

In Deutschland kennt ihn fast niemand. Dabei zählt Antonio Labriola (1843 – 1904) zu den Mitbegründern des Marxismus. Der viel bekanntere Antonio Gramsci bezeichnete ihn gar als seinen „Augenöffner“. 1974 erschienen die drei großen Essays Labriolas unter dem Titel Über den historischen Materialismus auf Deutsch – sie sind vergriffen. Der nun vorliegende Band Drei Versuche zur materialistischen Geschichtsauffassung ermöglicht mit seiner überarbeiteten Textfassung und einem Vorwort des Herausgebers Wolfgang Fritz Haug die Möglichkeit, Labriola als Gründer marxistischen Philosophierens neu zu entdecken.

Labriola kam erst spät mit dem Marxismus in Berührung. Eine Reihe von Revolten in Süditalien führte ihn zur verstärkten Beschäftigung mit politischen und historischen Fragen. Er wandte sich der Theorie zu und fand einen wichtigen Gesprächspartner: Friedrich Engels. Haug wirft in seinem Vorwort ein Schlaglicht auf den Briefwechsel. Aus der anfangs schülerhaften Haltung Labriolas wird zunehmend ein vertrauensvolles, gleichberechtigtes intellektuelles Verhältnis. Trotzdem wird Labriola nach Engels’ Tod in der deutschen Sozialdemokratie kaum wahrgenommen und wenn, dann im Zusammenhang mit dem Revisionismus Eduard Bernsteins – damals nahezu ein Todesurteil. Somit ist Labriola in der deutschsprachigen Tradition so gut wie vergessen – ein „Unglück“, schreibt Haug.

Das stimmt: Die drei Versuche, wie Labriola sie selbst genannt hat, beschäftigen sich mit der Bedeutung des Materialismus bei Marx und Engels. Der erste Essay widmet sich dem Manifest der Kommunistischen Partei und erschien 1895. Ein Jahr später folgt Vom historischen Materialismus. Der dritte Text unterscheidet sich in der Form. Der Versuch ist ein in Briefen an den Sozialphilosophen George Sorel gestaltetes Stück von 1897, veröffentlicht 1899. Bis zu diesen Briefen muss man sich durchkämpfen, um auf das Losungswort Labriolas zu stoßen, das dann durch Gramsci Karriere machen sollte. Die „Philosophie der Praxis“. Sie sei das „Mark des historischen Materialismus“ und, so Labriola weiter, „die in den Dingen, über die sie philosophiert, immanent vorhandene Philosophie. Der Weg führt vom Leben zum Denken“, nicht umgekehrt. Implizit angelegt war dies bereits in den Marx’schen Feuerbach-Thesen von 1845. Labriola nimmt Marx’ Gedanken auf und macht sie explizit.

Nicht nur, was Kohle bringt

Auch hier ist Labriola seiner Zeit voraus, da er unter Arbeit nicht nur Lohnarbeit und körperliche Arbeit, sondern vielfältige Formen fasst. „Jede zielgerichtete Tätigkeit lässt sich als Arbeit begreifen, was nicht hindert, das Gesamt der gesellschaftlich notwendigen Arbeiten als ihren Kernbereich zu verstehen. In diesem Sinn ist diese neue Philosophie zugleich Philosophie der Arbeit und untrennbar verbunden mit dem Schicksal der Arbeitenden und wiederum mit deren klassengesellschaftlichem Kern“, so fasst es Haug prägnant zusammen.

Lenin äußerte früh Interesse an Labriola, mit Plechanow stand er in Kontakt. Doch zum Kanon des Sozialismus gehört Labriola nicht. Er sollte auch nicht kanonisiert, sondern gelesen werden. Denn Labriola lehre keine Gedanken, sondern zu denken, so Benedetto Croce einmal. Das ist auch ein Gegengift gegen Formen des Ökonomismus und des Reduktionismus und nimmt Marx als Philosophen der Praxis, wie es bei Ernst Bloch heißt, ernst. Daher wäre es schlau, Marx endlich durch Labriolas Brille zu sehen.

Drei Versuche zur materialistischen Geschichtsauffassung Antonio Labriola Wolfgang Fritz Haug (Hg.), Karl Dietz Verlag Berlin 2018, 336 S., 29,90 €.