»Heiligabend wollen alle ihr Gewissen erleichtern«

Bettler werden meist ignoriert oder übersehen. Sie aber beobachten ihre Mitmenschen umso genauer. Was denken sie über Leute, die Geld geben oder weggucken?

Erschienen in Zeit Online vom 24.12.2017

Das betretene Schweigen der Fahrgäste kennt Gerd* nur zu gut. Sie schauen nach unten, wenn er mit seinen Zeitungen in der Hand in ihren U-Bahn-Waggon huscht. Gerd konfrontiert die Menschen mit einer Wirklichkeit, die die meisten gern verdrängen.

Gerd ist 55 Jahre alt und wohnungslos, nach Jahrzehnten in einem festen Job und einer Ehe verlor der Berliner vor einigen Jahren erst die Arbeit und dann seine Frau. Jetzt schläft er bei seinem Bruder auf der Couch und lebt von dem, was er mit dem Verkauf der Straßenzeitung und mit dem Betteln verdient. Wenn es noch warm genug ist, steht er auf dem Berliner Alexanderplatz. Zwischen den Hochhäusern auf dem großen, zugigen Platz wirkt Gerd mit seinen Zeitungen ziemlich verloren. Kaum jemand kommt, um ihm eine abzukaufen, und er mag es nicht, sich aufzudrängen. Doch jetzt, wo die Nächte lang und die Tage kalt sind, muss er durch die U-Bahn-Waggons ziehen, um überhaupt noch ein paar Zeitungen loszuwerden. Die meisten Menschen ignorieren ihn. Oder beschimpfen ihn sogar. “Es gibt Leute, die glauben, sie sind besser gestellt, und die kieken mich mit dem Arsch nicht an.”

Bettelnde Männer und Frauen gehören in Berlin und anderen Großstädten zum Alltag, in U-Bahnen, auf der Straße, vor Supermärkten. Was denken sie über diejenigen, die ihnen Geld geben oder sie ignorieren? Und was über ihre eigene Lage?

“Das ist ein hartes Programm”, sagt Gerd in seinem tiefen Berliner Bass. “Ick jeh abends um zehn ins Bett und um sechs steh ick uff, dann Frühstück, dann jeh ick baden, zieh mir an, hol Zeitungen und verkauf Zeitungen oder versuch sonst an Geld zu kommen und abends um sieben bin ick wieder da.” Und am nächsten Tag wieder von vorn. Seit 1974 ist das “stille Betteln” in Deutschland nicht mehr strafbar. Lautes und aufdringliches Betteln kann aber als Ordnungswidrigkeit geahndet werden.

“Was 20 oder 30 Cent bedeuten können”

Das hält Frieda allerdings nicht davon ab, manchmal lauter zu werden. Die 24-Jährige trägt Lederjacke und grünen Irokesenschnitt, mit drei anderen Punks und ihren beiden Hunden sitzt sie auf einer Decke auf der Warschauer Brücke in Friedrichshain. An ihr vorbei schieben sich Partytouristen und müde Handwerker, Hipster aus einem veganen Supermarkt und Drogendealer.

Manche Leute fragt Frieda mehrmals nach Geld. Meist weiß sie aber schon vorher, wer etwas gibt und wer nicht: “Leute, die es selber nicht leicht haben, geben häufig mehr”, sagt Frieda. “Die wissen aus eigener Erfahrung, was für eine Scheiße das ist, mit so wenig Kohle auskommen zu müssen.” Das gilt auch für sie selbst: “Wenn mich jemand auf der Straße nach 20 oder 30 Cent fragt, gebe ich ihm die, weil ich weiß, was 20 oder 30 Cent bedeuten können.” Den Unterschied zwischen Hunger und zwei Brötchen vom Billigbäcker zum Beispiel.

Gerade die, die es sich leisten könnten, gäben meistens nichts, sagt Frieda, ihr Blick geht in Richtung des veganen Supermarkts: “Es gibt ja Leute, die in der Manager-Etage rumschwirren und gerne mal von oben auf mich herab gucken und dann demonstrativ vor meiner Nase mit dem Kleingeld in der Tasche rumklimpern.”. Das macht sie wütend. “Es gibt wirklich viele so arrogante Arschlöcher. Also Leute, die einen kaum sehen und sagen ey, was bist du denn für ein Stück Scheiße, die können mich dann auch mal.”

Tagsüber bettelt Frieda in Berlin, wie Gerd hat sie einen klaren Tagesablauf. Sie lebt mit ihrem Partner in einem Bauwagen in Brandenburg, morgens um halb neun pendelt sie mit der Regionalbahn in die Stadt, wartet an der Warschauer Straße auf Münzen, fährt abends wieder zurück, macht Besorgungen, erzählt sie. Dann möchte sie “ein bisschen im Garten sitzen, die Sonne genießen”.

Sie wünscht sich nicht viel: Die Renovierung des Bauwagens, ihr Freund, ihre Hunde und bald ein Job, “das würde für mich eigentlich schon reichen”. Frieda ärgert sich über das Klischee, dass wer bettelt, immer auch Alkohol oder Drogen konsumiere. Sie schüttelt den Kopf: “Mit solchen Sachen wie Drogen kannste mich jagen. Du musst es dir mit so ner Scheiße nicht noch schwerer machen.”

Auch für Ludwig ist die Sache eindeutig: “Ich nehm das Zeug nicht, weder Drogen noch Alkohol”, sagt der 49-Jährige. “Wenn die Leute sich das einflößen oder spritzen müssen, ist das ihr Problem. Dann müssen sie sehen, woher sie das Geld  kriegen.” Ludwig verlor nach der Wende seinen Job, seine Ausbildung als Feinelektroniker wurde in der Bundesrepublik nicht anerkannt. Seitdem war er mehrmals obdachlos, so wie jetzt auch. Solche Zäsuren zeigen sich in den Gesprächen häufig: Jobverlust, Krankheit, Trennung, Räumungsklagen, Gewalterfahrung in der Kinder- und Jugendzeit. Selten sind Menschen, die betteln, nur von einem dieser Probleme betroffen. Das macht es für sie noch schwerer, wieder aus der Notlage herauszukommen.

“Da gehört man zum Müll”

Ludwig schläft in einer Notunterkunft. Hoffnung, dass sich das nochmal ändert, hat er nicht. “Nen festen Job krieg ich jetzt nicht mehr, ich hab nen Behindertenstatus. Mit fuffzig und behindert, da is finito. Da gehört man zum alten Eisen sozusagen, zum Müll.”

Deshalb steht er an einem S-Bahnhof im Berliner Norden und versucht, Zeitungen zu verkaufen. Er erklärt, wo man genau stehen darf. Wer innerhalb der Bahnhöfe verkauft, mache dies auf eigene Gefahr. Hausrecht. “Die kriegen maximal drei Verwarnungen, dann eine Anzeige. Spätestens nach der zweiten Anzeige sind se im Knast”, erzählt er. Deshalb steht Ludwig draußen vor dem Eingang. 15 bis 20 Zeitungen verkauft er in acht Stunden, das sind 20 bis 30 Euro. Doch es gibt auch die Tage, an denen er in zwei Stunden so viel verdient wie sonst in einer ganzen Woche. “Das ist meistens Heiligabend, wo die alle noch ihr Gewissen erleichtern wollen”, sagt Ludwig.