Die Traurigkeit der Revolutionäre

Notizen von einer Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum «Roten Oktober» 1917. (Zusammen mit Karlen Vesper)

Erschien in Neues Deutschland vom 11.11.2017

»Revolution statt Krieg« – unter diesem Motto rollte in Hamburg, Bremen, Hannover und schließlich in Berlin, über die Karl-Marx-Allee hin zum Karl-Liebknecht-Haus, ein Konvoi historischer Militärfahrzeuge der Roten Armee, darunter ein Panzer und ein Schiff. Die »Aurora«? Das Spektakel, organisiert vom Aktionsbüro »Die Himmlischen Vier« in Aktionseinheit mit dem Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD, fand bei nicht wenigen Passanten begeisterte Zustimmung. Fäuste schnellten hoch: »Rot Front!«. Andere zufällige Augenzeugen schüttelten verwundert den Kopf. Ja mei, ist denn schon Karneval? Budjonnymützen tragende Revoluzzer intonierten mit Schalmeien die »Internationale«. Beim Domizil der Linkspartei sollen indes an diesem 7. November alle Fenster dicht gewesen sein. Vielleicht ist das aber nur ein Gerücht.

Ja, die Russische Revolution von 1917 geht auch die Deutschen an, ob es ihnen lieb ist oder nicht. Linke aller Couleur vor allem. Von Schwerin über Stuttgart bis Suhl wurde im Jubiläumsjahr über das weltumkrempelnde Ereignis disputiert. Zu guter Letzt lud noch vor dem Jahrestag die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin zu einer dreitägigen Konferenz: »Perspektiven auf den Roten Oktober«. Die 24 Referenten und Referentinnen aus sieben Ländern wollten nicht nur zurück, sondern auch vorwärts schauen.

Den Auftakt machten Michael Brie und Janine Wissler. In Anbetracht, dass Linke sich heute weitgehend in der Defensive befinden, Marxens 11. Feuerbachthese – »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an sie zu verändern« – aber unabgegolten ist, empfahl der Wissenschaftler, Lenin zu lesen, ihn indes nicht zu kopieren, sondern sich von ihm anregen zu lassen, was in Ohnmachtssituationen zu tun sei. Für Brie gehören die Ideale und Ideen der Bolschewiki weiterhin zum Narrativ der Linken. Denn: »Wer keine eigene Erzählung hat, kann kein ›Wir‹ stiften – wir müssen Anstrengungen unternehmen, uns zu verbinden und ein neues ›Wir‹ zu stiften.« Im Gegensatz zu den Linken hätten die Rechten eine eigene Erzählung. Für Janine Wissler sind Oktoberrevolution und Lenin gleichfalls wichtig, »um über Veränderungen zu sprechen«. Die hessische Landtagsabgeordnete mahnte kritische Reflexion jenseits von Glorifizierung und Dämonisierung und eingedenk aller Widersprüche und Irrtümer an.

Am zweiten Konferenztag wurden verschiedene Blickwinkel, Lesarten der Russischen Revolution samt Folgen diskutiert. Die Spannweite reichte von Kunst während der Revolution über die Neue Ökonomische Politik der 1920er Jahre bis zum chinesischen Kommunismus. Den Anfang machten die US-Politikwissenschaftlerin Jodi Dean und der russische Soziologe Boris Kagarlitzki, Dissident zu Sowjet- und postsowjetischen Zeiten und der einzige russische Staatsbürger auf der Berliner Konferenz.

Zentral für die aktuelle Betrachtung der Russischen Revolution in den USA seien, so Dean, immer noch Feindbilder aus dem Kalten Krieg, in dem die UdSSR als Hort allen Bösen angesehen wurde. Heutige antirussische Ressentiments speisen sich aus tradiertem Antisowjetismus und Antikommunismus. In der US-Geschichtsschreibung gelte Lenin als zentrale Figur, der die Revolution quasi im Alleingang erledigte, folgerichtig von Stalin als totalitärem Herrscher beerbt. Nunmehr, so die Sicht vieler Amerikaner, sei es Putin, der wiederum als Einzelperson die Freiheit und Sicherheit bedrohe.

Eigentlich hatte der Bochumer Historiker Christoph Jünke eingangs annonciert, man wolle nicht über Persönlichkeiten reden, sei es Lenin, Trotzki, Stalin oder Bucharin etc., um »Fallstricke« zu vermeiden. Dieser Vorsatz war freilich nicht einzuhalten. So forderte sein Berliner Kollege Wladislaw Hedeler mit Blick auf die in Ausstellungen, Feuilletons und auf dem Buchmarkt hierzulande präsentierten Erzählungen russischer Emigranten, von Iwan Bunin über Boris Sawinkow bis hin zu Sinaida Hippius, dass sich die Linke stärker mit Lenin und dessen Kampfgefährten, aber auch Opponenten befasse.

Kagarlitzki hatte zuvor berichtet, wie sich schon die Sowjetunion beim Gedenken an den »Roten Oktober« schwer tat. Und jetzt eben Putins Russland. Die liberale Opposition stelle die Februarrevolution in den Fokus, während die Kommunistische Partei, wie Kagarlitzki süffisant mitteilte, ein »Bankett zu Ehren der Revolution« gebe – ausgerechnet in einem Moskauer Hotel mit Namen »Monarch«. Für andere russische Linke sei die Erinnerung an die Revolution schmerzhaft, da sie ihnen deren eigene Schwäche vor Augen führe.

Der Mainzer Dozent Reiner Tosstorff beleuchtete Westeuropa im Schatten der russischen Ereignisse von 1917. Im Gegensatz zu ost- und mitteleuropäischen Staaten sei bei den Siegermächten des Ersten Weltkrieges trotz machtvoller Streiks und Meutereien die alte Staatsmacht nicht zusammengebrochen, habe sich keine revolutionäre Alternative herausgebildet, nicht einmal Räte. Für den italienischen Politikwissenschaftler Dario Azzellini waren Arbeiterräte im 20. Jahrhundert als direkte Kontrollorgane am Arbeitsplatz immer dann erfolgreich, wenn sie breite Allianzen »quer zu Klassengrenzen« schmiedeten, Bündnisse auch vor den Betriebstoren eingingen.

Am dritten Tag schließlich offerierte die Kommunismusforscherin Bini Adamzcak ihr Konzept der »Traurigkeit der Revolutionäre nach der Revolution«. Und der niederländische Sozialhistoriker Marcel van der Linden erklärte, dass die Bürokratie »ebenso konstitutiv für die Sowjetunion wie die Arbeiterklasse« gewesen sei; eine befreite und wirklich vernünftige Gesellschaft sei derart jedoch nicht möglich gewesen.

Die Bandbreite der Themen war enorm. Mitunter war es schwer, in diesem Potpourri einen Ordnungssinn zu erkennen. Dass man trotzdem nicht in postmoderne Beliebigkeit abrutschte, lag an den zumeist brillanten Vorträgen und einem sehr ambitionierten, diskutierfreudigen Publikum. Einig waren sich alle Teilnehmer über die welthistorische Bedeutung des »Roten Oktobers« und das reiche theoretische und praktische Erbe.

»Wir müssen reden.« Mit diesen Worten hatte Uwe Sonnenberg im Namen der Stiftung die Konferenz eröffnet. Diese Forderung bleibt.