Mit spitzer Feder und schwerem Gemüt

Von einem, der nie ganz „zu Hause“ war in der Welt – und umso tiefer in die Abgründe eines ganzen Jahrhunderts blickte.
Eine Rezension zu Später, J.: Siegfried Kracauer. Eine Biographie

Erschienen in Kritisch-Lesen 44/2017

Ratgeberbücher zu Trennungen füllen ganze Bibliotheken. Man findet Hilfen zur Trauerarbeit, Tipps für Verarbeitung oder Verdrängung und wie man das Leben als Single alleine am besten gestalten kann. Biographien tun sich als Hilfestellung in solchen Situationen eher selten hervor. Eine Ausnahme könnte die 2016 von Jörg Später veröffentlichte Schrift über Siegfried Kracauer sein. Denn gleich zu Beginn der Biographie werden einschlägig Gefühle beschrieben, die Menschen in Phasen von Trauer und Trennung erleben und Kracauer selbst sein ganzes Leben begleiten sollten: Wut, Eifersucht, Trauer, Unverständnis, Kränkungen und Neid. Jörg Später als Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Freiburg schafft es in seiner monumentalen Biographie mit über 700 Seiten pünktlich zum 50. Todestag von Kracauer, dessen Lebensgeschichte hervorragend und plastisch nachzuerzählen und dabei mit Siegfried Kracauer einen Menschen darzustellen, dessen gesamtes Leben von solchen Kränkungen und Widrigkeiten geprägt war.

Die Melancholie der Moderne

Kracauer, 1889 in Frankfurt in einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie geboren, studiert ohne große Begeisterung Architektur – ein Brotberuf. Durch den Ersten Weltkrieg wird sein Lebensweg ein erstes Mal zerrüttet und Kracauer wendet sich der Philosophie zu: Georg Simmel und Max Scheler werden Bezugspunkte und intellektuelle Stichwortgeber. Erst zögernd, dann aber bewusster wird er Redakteur bei der links-liberalen Frankfurter Zeitung (FZ). Ab 1921 ist er fester Mitarbeiter mit Jahresgehalt.

Doch trotz des sich rasch einstellenden Erfolgs als einflussreicher Feuilletonist der Weimarer Republik benennt Später auch hier die Brüche und Probleme. Zum einen bleibt Kracauer innerhalb der Redaktion der FZ Außenseiter – unter anderem „angesichts seiner Sprechprobleme“ (S. 155). Kracauer stottert. Zum anderen sind es philosophische Fragen, die der junge Kracauer an sich und seine Zeit stellt. Durch die Moderne sei die Frage nach dem Sinn aufgekommen, da Glaubensinhalte keine Gültigkeit mehr besitzen. „Entzauberung und Fragmentierung der Welt […] das war für Kracauer der Daseinszustand“ (S. 113). Er versteht dies jedoch nicht als religiöses, sondern als philosophisches Problem. Pate für diese Gedanken steht Georg Lukács’ Diktum der „transzendentalen Obdachlosigkeit“, das heißt der fehlenden geistigen Heimat der Menschen, die dieser bereits 1916 in seiner „Theorie des Romans“ als Grundgefühl der Epoche benannt hat. „Der Glaubensverlust hatte die Menschen nicht auf die Welt und ein Diesseits, sondern vielmehr auf sich selbst zurückgeworfen“ (S. 113). Dabei seien „Einsamkeit und Heimatlosigkeit das Schicksal des Menschen ‚im leeren Raum’ der ‚sinnfremden Realität’“ (S. 99), wie Kracauer es nennt. Die Einheit zwischen Welt und Individuum sei durch die Moderne zerstört. Die Welt erscheint kontingent, aber der Wunsch nach Eindeutigkeit und Ordnung bleibt bestehen. Die Zustandsbeschreibung ist die einer „kontingenten Welt und eines problematischen Individuums“ (S. 132). Dieses leide unter dem „Heimweh nach dem entschwundenen Sinn“ (S. 99). In seinem Text „Die Wartenden“ beschreibt Kracauer in diesem Zusammenhang die Aufgabe der Philosophie damit, diese „Flamme der Sehnsucht“ (Kracauer 1990: S. 123) nach dem Sinn wachzuhalten. Es gelte, die Haltung des Wartenden einzunehmen, die er als zögerndes Geöffnetsein beschreibt. Mit diesen Gedanken wird er zum einflussreichen Zeitdiagnostiker und schart andere Denker um sich. Nicht ohne Grund zieht sich die Freundschaft Kracauers mit drei weiteren zentralen deutsch-jüdischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts als zentrales Motiv durch das Buch: Adorno, Benjamin und Bloch.

Philosophisches Kaffeekränzchen mit Adorno und Co.

Zu Beginn sind die Rollen in diesem Beziehungsgeflecht klar. Der 14 Jahre ältere „Friedel“ Kracauer ist intellektueller Mentor des hochbegabten „Teddie“ Adorno. Durch gemeinsame samstagnachmittagliche Kant-Lektüre entwickelt sich eine platonisch-homoerotische Beziehung zwischen den beiden. Bloch und Benjamin stoßen zu dieser Verbindung hinzu und das intellektuelle Quartett diskutiert die entscheidenden Themen der 20er Jahre: Marxismus, Moderne und Messianismus. Trotz Unterschieden im Denken – Kracauer wird Zeit seines Lebens Blochs utopischen und empathischen Marxismus nicht verstehen – eint die vier doch ein „Denken abseits von etablierter Philosophie, Wissenschaft und Kunst“ (S. 250). Dieser Kreis ist für Kracauer ein Weg, die „transzendentale Obdachlosigkeit auszuhalten; er hatte eine politische Orientierung und darüber neue Freunde gefunden […] und stand beinahe im Mittelpunkt dieses Kreises“ (S. 190). Der Freundeskreis debattiert miteinander, zitiert sich und Kracauer wird durch seine Stellung bei der FZ zum Protegé für die jüngeren Wissenschaftler.

Im Gegensatz zu den hoch strebenden Theorieansätzen Adornos, Benjamins und Blochs wird Kracauer jedoch stets an der Oberfläche bleiben – ohne dabei oberflächlich zu sein. Seine Schrift „Ornament der Masse“ drückt dies aus. Kracauer stellt hier den Blickwinkel neu ein. „Zu den Sachen selbst, zu den ursprünglichen Erfahrungen“ (S. 105) war der Schlachtruf der Phänomenologie, dem sich Kracauer in seiner soziologischen Arbeit anschließt. Das „Maß aller Dinge war die profane Wirklichkeit, die es dialektisch im Spannungsfeld von Theorie und Erfahrung zu ergründen gelte“ (S. 183). In der „Welt des Profanen und Trivialen“ (S. 119) finde man, so Kracauer, viel eher die Wirklichkeit wieder als in großen Theoriegebäuden. „Im Zweifelsfall war Kracauer daher für die Erfahrung und gegen die Theorie“ (S. 562).

Doch spätestens 1933/34 zerbricht die Gruppe aufgrund von politischen und philosophischen Differenzen. Seinen Höhepunkt wird der Konflikt rund um Kracauers Buch „Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit“ erfahren, mit dem Kracauer weniger ein theoretisches Buch als vielmehr einen finanziellen Erfolg erreichen will. Nachdem Adorno einige Zeit vorher bereits eine Studie Kracauers über faschistische Propaganda bis zur Unkenntlichkeit redigiert, wird er ihm für den „Offenbach“ „Verrat“ an der gemeinsamen Sache vorwerfen. Der Bruch in der Beziehung scheint endgültig. Doch bereits in den 20er Jahren kam es zu einer ersten Trennung zwischen den beiden, begleitet von Liebeskummer, Leid und Schmerz. In diesem Zusammenhang ist von „wüsten Träumen“ (S. 128), von Dämonen, die Kracauer jagen, Depressionen, „libidinöser Obdachlosigkeit“ (S. 129) und „Zerfallen“ (S. 131) die Rede. In Episoden wie diesen schafft es Später, Kracauer als Mensch und damit als Zeitgenossen darzustellen, ohne in Pathos oder billige „Menschelei“ zu verfallen.

Flucht und NS-Terror: New York als neue „Heimat“

Mit dem Bruch des Freundeskreises geht auch eine Episode in Kracauers Leben zu Ende: Deutschland. Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand 1933 muss er nach Frankreich fliehen, seine Bücher wurden von den Nazis verbrannt. Paris, die gut bekannte Stadt wird für ihn keine Heimat werden. Die Emigration bringt für ihn „Geltungsverlust“ (S. 297) und „Bodenlosigkeit“ (S. 297) mit sich. Von der FZ wird er fallengelassen. Damit gehen für ihn und seine Frau Elisabeth „Lili“, die eine lebenslange Ehe verbinden wird, auch existenzielle finanzielle Probleme einher. Als Intellektueller ohne Anstellungen gehört er (wohl wie heute) „zum Prekariat der damaligen Zeit“ (S. 172). Über Marseille, Spanien und Lissabon gelingt ihm, im Gegensatz zu Benjamin, die Flucht in die USA. Kracauers Mutter und Tante bleiben im NS-Deutschland und fallen den Nazis zum Opfer: „Man konnte keine sinnvollen und Schmerz lindernden Worte darüber äußern. Es war nichts dazu zu sagen“ (S. 447, Herv. i. O.), so Kracauer.

New York wird seine neue Heimat. Kracauer stellt sich sofort auf die ungewohnte Umgebung ein und versucht deutschen Ballast abzuwerfen. „Von Beginn an schrieb er konsequent und ohne Vorentwürfe in Englisch“ (S. 413). Auch sein Stottern kann er in der neuen Sprache ablegen; 1946 werden er und Lili US-amerikanische Staatsbürger_innen. Er ist sich bewusst, dass dies „die letzte Station, die letzte Chance [ist], die ich nicht verspielen darf, sonst ist alles vorbei“ (S. 408). Gleichzeitig ist für die Neuankömmlinge die Lage weiterhin prekär. Kracauer hangelt sich von Stipendium zu Forschungsauftrag, von Artikel zu Vortrag. Er „musste sich ständig anbieten, interessant machen, sich selbst loben“ (S. 465). Dies hatte etwas „Entwürdigendes. Und viel Geld brachte es auch nicht ein“ (S. 466). Die erste Zeit in New York ist dahingehend „kein intellektuelles Abenteuer, sondern öde und eng“ (S. 473). Trotz zahlreicher Kontakte und Verbindungen will sich der Erfolg nicht wieder einstellen und seine feuilletonistischen Spitzen schienen ihn verlassen zu haben: „Die Wirklichkeit hatte ihn Demut gelehrt, die spitze Feder war stumpf geworden, und an die Stelle des trockenen Witzes war eine Weisheit getreten, die zuweilen ziemlich bieder daherkam“ (S. 466).

In dieser Phase tritt mit dem Film jedoch ein Thema auf, das Kracauers Ruhm zentral begründen sollte. Mit seinen Filmanalysen schließt Kracauer an den Gedanken aus dem „Ornament der Masse“ an, wonach „aus der Analyse der unscheinbaren Oberflächenäußerungen die Gesamtverfassung der Zeit am ehesten zu ermitteln sei“ (S. 453). In seinem Buch „Von Caligari zu Hitler“ über Propagandafilme in Deutschland wird er diesen Gedanken das erste mal bezogen auf den Film ausformulieren. Seine „Theorie des Films“ wird den theoretischen Rahmen bilden. Der Film sei, so Kracauer, das adäquate Mittel, Oberflächenphänomene der modernen Gesellschaft zu beschreiben und dadurch zu einem tieferen Verständnis der Gesellschaft zu gelangen.

Wegweiser für das 21. Jahrhundert

Späters Pionierarbeit, eine erste, wirklich umfassende Biographie Kracauers vorzulegen, ist vollkommen gelungen. Gewandt interpretiert er die Schriften Kracauers und bettet sie in die jeweiligen Kontexte ein. Darüber hinaus gelingt es ihm gestützt auf Korrespondenzen, Gespräche und Kracauers Nachlass im Marburger Literaturarchiv, den Später systematisch ausgewertet hat, ein überzeugendes Bild des Menschen Kracauer mit all seinen Ambivalenzen zu zeichnen. Elegant verbindet Später die privaten und materiellen Aspekte Kracauers Biographie auf der einen und die beruflichen und politischen Verwerfungen auf der anderen Seite. Am Leben Kracauers werden die Widrigkeiten des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet und mit persönlichen Schicksalsschlägen verbunden. Damit gelingt es Später, Kracauers Leben als voll von Bangen und Verzweifeln, aber auch Erfolgen und Glück zu beschreiben. Es bleibt dem Buch zu wünschen, dass es fleißig gelesen wird und damit ein neues Kapitel in der Beschäftigung mit den immer noch aktuellen Texten von Kracauer stattfindet. 1931 schrieb Kracauer mehrere Aufsätze unter dem Titel „Aufruhr der Mittelschichten“. Im „Kampf gegen den Liberalismus, dem sie entstammen“, würden die Mittelschichten „Staat, Raum, Mythos“ verherrlichen. Ein Schelm wer dabei an das Jahr 2017 denkt.

Zusätzlich verwendete Literatur:

Kracauer, Siegfried (1990): Georg von Lukácsʼ Romantheorie. In: Kracauer, Siegfried: Werke, Band 5.1, Suhrkamp, Frankfurt am Main.

 

 

(Beitragsfoto: http://www.suhrkamp.de)