»Die Macht kleiner Schritte«

Nein, Männer sind nicht an allem schuld. Aber ja, es gibt Männlichkeitsvorstellungen, die ein Problem sind – für die Betroffenen und die Gesellschaft. Der Tod seines Vaters brachte Jack Urwin dazu, falsche Männlichkeitsvorstellungen zu analysieren

 

Erschienen in Der Freitag 13/2017

Herr Urwin, zentraler Begriff Ihres Buchs ist „toxische Männlichkeit“. Was meinen Sie damit?
Wenn ich von toxischer Männlichkeit spreche, meine ich Dinge, die Männer tun, um noch männlicher zu wirken. Es sind Übertreibungen von Verhaltensweisen und Handlungen, die gesellschaftlich als männlich empfunden werden. Diese Form der Männlichkeit ist eine Überkompensation als Folge von Unsicherheit. Und sie ist verantwortlich für viele negative Aspekte der Gesellschaft wie Gewalt oder rape culture. Doch nicht nur in solch krassen Beispielen findet sie sich, sondern auch in alltäglichen Begebenheiten wie bei Fußballspielen. Da sie so allgegenwärtig ist, wird sie als normal und natürlich hingenommen, Männern wird sie anerzogen und dann handeln sie danach.

Welche Folgen hat das?
Diese Übertreibung von männlich konnotierten Handlungen kann dann dazu führen, dass es sowohl für Männer selbst als auch für ihr Umfeld schmerzhaft wird. Männlichkeit an sich muss nicht zwingend negativ sein, aber sie wird toxisch, wenn Männer denken, sie müssten gewalttätig sein. Darunter leiden dann alle. Und toxische Männlichkeit hindert Männer daran, offen über Gefühle zu reden, was zu schweren physischen und psychischen Verletzungen führen kann.

War das der Anlass für Ihr Buch?
Der konkrete Anlass war der Tod meines Vaters durch einen Herzinfarkt. Ich sah seine Unfähigkeit, sich in der Familie emotional auszutauschen und um Hilfe zu bitten – und ich glaube, dass dies auch für seinen frühen Tod verantwortlich war, denn er hat der gesamten Familie nichts von seinen Herzproblemen erzählt. Ich denke, dass er uns damit schützen wollte. Sein Tod hätte aber verhindert werden können. Dies ist auch eine Form von toxischer Männlichkeit, die mein Vater mit dem Leben bezahlt hat und ich mit dem Verlust des Vaters. Dieses Verhalten lag sicher auch in seiner Erziehung begründet, und solche Haltungen hat er auch an mich weitergegeben. Dies sowie Erfahrungen von Depressionen als Jugendlicher waren zusammen der Auslöser für das Buch. Vieles, von dem ich schreibe, ist mir also persönlich bekannt.

Rührt daher auch der essayistische Ton Ihres Buchs?
Ich denke: ja. Es soll ein Buch für alle sein und nicht nur für ein akademisches Publikum.

Sie selbst mussten sich auch erst in die Begriffe und Debatten der Genderforschung einlesen, wie Sie gesagt haben.
Das stimmt. Ich kannte nur die Grundgedanken rund um das Thema Gender. Aber genau deswegen wollte ich ein Buch darüber schreiben – für Menschen, speziell für Männer, die in einer ähnlichen Position sind wie ich. Ich wusste, dass ich meinen Blick, wie ich Männlichkeit sehe und darüber nachdenke, ändern wollte. Das war mir wichtig. Aber ich hatte tatsächlich kein vertieftes Wissen, nur meine persönlichen Erfahrungen. Ich glaube auch, dass man das in meinen Texten wiederfindet.

Auch die Männer sind bei Ihnen in gewisser Weise Opfer der Verhältnisse. Gibt es denn Reaktionen von Frauen und Feministinnen auf Ihr Buch?
Viele Feministinnen haben dieses Thema nun mehrere Jahrzehnte lang diskutiert. Für die überwiegende Mehrheit derer, mit denen ich gesprochen habe oder von denen ich gelesen habe, geht es darum, die Beschädigungen aufzuheben, die sowohl Frauen als auch Männer zu erleiden haben. Viele von ihnen sind eine große Unterstützung, Männern zu helfen, ihre Rolle zu ändern.

Aber wie bekommt man die Männer dazu, da sie ja von den aktuellen Umständen in der Gesellschaft profitieren?
Das ist eine der schwierigsten Aufgaben, denen wir uns zu stellen haben. Wir müssen, glaube ich, an den Anstand und sogar an den Instinkt der Männer appellieren. Zum Beispiel entdecken mehr und mehr Väter die Freude daran, viel Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Sie haben aber häufig nicht die Möglichkeit, so viel Zeit mit ihnen zu verbringen wie die Mütter. Dies ist keine individuelle Schuld, sondern liegt an der ungleichen Bewertung von Vaterschafts- oder Mutterschaftsurlaub – und der Tatsache, dass in den meisten heterosexuellen Beziehungen immer noch die Männer arbeiten gehen und auch noch mehr verdienen.

Was folgt daraus?
Wir können die Frage von Vaterschaftsurlaub nicht beantworten, wenn wir nicht auch die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen ansprechen. Wir müssen Männer – und das mit Nachdruck – dazu bringen, dass sie einsehen, dass auch sie von Geschlechtergleichheit profitieren werden. Dafür muss aber das vorherrschende Bild der toxischen Form der Männlichkeit verschwinden.

Sie schreiben stark männerdominierten Organisationen wie dem Militär die Möglichkeit zu, neue Männlichkeitsbilder zu entwerfen. Wie stellen Sie sich das vor, da Sie ja gleichzeitig auch von habituellen Dispositionen sprechen, also Männlichkeit, die durch das Militär produziert und reproduziert wird?
Eine entsetzlich große Zahl von jungen Männern geht zur Armee, weil das für sie ein männliches Karrieremodell ist. Das Ergebnis dessen ist, dass das Militär voll ist von verunsicherten Männern, die das toxische männliche Verhalten reproduzieren. Wir müssen uns darum kümmern, mit welchen positiven und pragmatischen Handlungen wir hier Verbesserungen erreichen können.

Wo könnte man da ansetzen?
Durch eine Ausweitung der Bildung kann zumindest sichergestellt werden, dass Männer die negativen Folgen toxischer Männlichkeit erkennen und dadurch vielleicht auch ihre Handlungen ändern. Konkret stelle ich mir für das Militär inklusiven Unterricht vor, der sich auf Männlichkeit bezieht und von Vorgesetzten, die im besten Fall auch Vorbilder sind, geleitet wird. Dies wäre zumindest ein Anfang.

Verbleiben Sie da nicht in einer binären Zweigeschlechtlichkeit?
Das ist eine Schwachstelle meines Buchs, ja. Ich bin mir bewusst, dass es sehr viel zum Zusammenhang von Männlichkeit und LGBTI-Community zu sagen gäbe, ich wollte aber darüber schreiben, wo ich am besten Bescheid weiß und wo ich die Notwendigkeit einer Selbstreflexion am stärksten sehe: bei Männern.

Wohin könnte diese Reflexion führen?
Ich wünschte, dass wir so weit kämen, dass eine Definition von Männlichkeit gar keine Bedeutung mehr hätte. Ich denke, keine „wirkliche Männlichkeit“ zu haben, wäre grandios – oder anders formuliert: multiple Männlichkeiten.

Kann es eine solche Revolution von Männlichkeit ohne Revolution der Gesellschaft geben?
Nein, aber es gibt vieles, was jede und jeder von uns jetzt schon tun kann: etwa unser eigenes Verhalten und das in unserem unmittelbaren Freundeskreis ändern, um damit zu beginnen, diese veralteten Vorstellungen von Geschlecht und Männlichkeit aufzulösen. Eine Revolution wäre nötig, um die Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen, die ich mir vorstelle, aber wir sollten auch nicht die Macht von vielen kleinen, alltäglichen Handlungen unterschätzen.

Zur Person

Jack Urwin, geboren 1992, ist Brite. Er hat in London Journalismus studiert und lebt heute in Toronto. Gerade ist sein erstes Buch Boys don’t cry. Identität, Gefühl und Männlichkeit bei Nautilus auf Deutsch erschienen

 

(Beitragsfoto: Illustration, Max Guther für der Freitag)