Prekariat und Widerstand – Notwendige gewerkschaftliche Sisyphusarbeit

Erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Ausgabe 1-2/2017

»Prekarität hat bei dem, der sie erleidet, tiefgreifende Auswirkungen. Indem sie Zukunft überhaupt im Ungewissen läßt, verwehrt sie den Betroffenen gleichzeitig jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allen Dingen jenes Mindestmaß an Hoffnung und Glaube an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist

In diesem Zitat des französischen Soziologen Pierre Bourdieu kommt die immense Schwierigkeit der Organisation und des kollektiven Widerstands von Beschäftigen unter prekären Bedingungen eindeutig zum Vorschein. Prekarität verhindert hier jegliche Antizipation und Ausblick in eine bessere Welt. Der Zustand erscheint ausweg- und hoffnungslos. Doch sind prekär Beschäftigte nicht nur stumme Opfer der Verhältnisse, sondern können diese auch aktiv gestalten und verändern. Aber wie kann Widerstand von prekär Beschäftigen aussehen und was sind spezifische Probleme »prekärer« Kämpfe?

Eine besondere Rolle bei der Organisierung von prekär Beschäftigen kommt hierbei den Gewerkschaften zu. In Teilen des DGB ist dies bereits auch angekommen. Viel Arbeit muss aber noch getan werden.

Aktuell boomt der Begriff der Prekarität. In unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Soziologie oder den Politikwissenschaften, aber auch in parteipolitischen und gewerkschaftlichen Debatten wird immer wieder von Prekarität und Prekarisierung gesprochen. Doch auch wenn der Begriff heute allgegenwärtig erscheint, besteht keine einheitliche Definition. Zur Klärung erscheint eine erste konzeptionelle Unterscheidung sinnvoll.

Prekäre Beschäftigung ist zu unterscheiden von atypischer Beschäftigung. Darunter werden Arbeitsverhältnisse verstanden, die vom Normalarbeitsverhältnis in mindestens einem Merkmal abweichen. Das Normalarbeitsverhältnis ist tariflich abgesichert, sozialversicherungspflichtig, unbefristet und sieht geregelte Arbeitszeiten vor. Atypische Beschäftigung als Abweichung davon stellt somit eine Kategorie dar, die inhaltlich sehr unterschiedlich gefüllt werden kann. Daher werden darunter sowohl Teil­zeit- und geringfügige Beschäftigung als auch Befristung und Leiharbeit gefasst. Diese heterogenen Formen atypischer Beschäftigung gewinnen in der öffentlichen Debatte vermehrt an Aufmerksamkeit, da sie auch statistisch immer weiter zunehmen. Es handelt sich hierbei nicht mehr nur um ein Randthema, sondern es ist in der Mitte der Arbeitswelt angekommen. Der Trend ist eindeutig: Atypische Beschäftigungen stiegen seit der Jahrtausendwende von 30 auf knapp 39 Prozent an. Teilzeit (mit Midijobs) bildet hierunter die größte Gruppe. Frauen sind mit 80 Prozent überdurchschnittlich oft in Teilzeit beschäftigt. Befristung betrifft rund zehn Prozent aller Beschäftigten, jedoch sind nahezu die Hälfte aller neu abgeschlossenen Arbeitsverträge befristet.

Zwar gibt es nun zwischen den Bereichen atypischer und prekärer Beschäftigung durchaus große Schnittmengen und das Risiko der Prekarisierung in atypischer Beschäftigung ist latent vorhanden, dasselbe sind sie aber nicht. Phänomene, die trotz aller Differenzen bei der Definition von prekärer Beschäftigung immer wieder auftauchen, sind zum einen der Abbau von Rechtssicherheit und kollektiver Schutzmacht, z.B. in Form von Gewerkschaften, sowie zum anderen die Durchsetzung von geringen Löhnen, die nahe oder sogar unter dem Existenzminimum liegen. Prekär Beschäftigte sind somit kaum sozialversicherungsrechtlich angebunden, individuell der Macht des Kapitals ausgeliefert und müssen als working poor oft mehrere Jobs ausüben, da von einem häufig nicht zu leben ist. Gefährliche oder gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen sind ebenso keine Seltenheit.

Eine aktuelle Systematisierung und Erweiterung des Begriffs versucht der Jenaer Professor Klaus Dörre im Anschluss an den französischen Soziologen Robert Castel. Beide haben verschiedene Abstufungen der Prekarität ausgemacht, in denen sich Beschäftigte befinden können: die Zone der Integration, die Zone der Verwundbarkeit und die Zone der Abkopplung. Die Zone der Integration umfasst stabile Arbeitsverhältnisse und damit zusammenhängend die Eingliederung in soziale Netze – hier liegt der Fokus vor allem auf dem Normalarbeitsverhältnis, aber auch auf gut bezahlter oder freiwilliger atypischer Beschäftigung. Ihr steht die Zone der Entkopplung gegenüber, dort befinden sich dauerhaft Erwerbslose oder Personen, die keine reellen Chancen mehr haben, in den ersten Arbeitsmarkt integriert zu werden. Dazwischen findet sich die Zone der Verwundbarkeit, die für prekäre Beschäftigung von großer Bedeutung ist. Die Gefahr, in die Zone der Entkoppelung, in der sich die »Überzähligen«, wie Castel sie nennt, befinden, abzurutschen, also die dauernde Angst abzusteigen, verlangt von den Akteuren konstante Anstrengung. Diese Zone ist somit nicht von Stabilität und Sicherheit, sondern von Heterogenität und Verwundbarkeit geprägt. Prekär Beschäftigte haben in dieser Vorstellung keinerlei Reserven und verfügen nicht über »Ruhekissen«, wie Klaus Dörre es bezeichnet. Hierbei ist der Aspekt der Unsicherheit zentral. Dass es sich hier um eine subjektiv empfundene Dimen­sion handelt, macht die Besonderheit aus. Sowohl die materielle Basis als auch die sozial empfundene Unsicherheit sind notwendige Bedingungen für Prekarität, die verschränkt und gleichzeitig zu untersuchen sind.

Prekarisierungstendenzen können das gesamte Leben und die gesamte soziale Existenz eines Menschen betreffen und führen zu einer neuen Form von Subjektivierung, die sich aus den alten Strukturen immer weiter loslöst. Diese Subjektivierung zeichnet sich zum einen durch erweiterte Freiräume, zum anderen aber durch Selbst­rationalisierung und Selbstausbeutung aus. Prekariat kann also auch mit großen subjektiven Entfaltungs- und Gestaltungsmöglichkeiten verbunden sein.

Um dies in einen geordneten Rahmen zu führen, kommt den Gewerkschaften eine entscheidende Rolle zu. Diese hatten (und haben) aber große Probleme, prekär Beschäftige zu organisieren und sie zu vertreten, da sie überdurchschnittlich hohe finanzielle und per­sonelle Ressourcen für die Organisierung, Verwaltung und Betreuung von prekär Beschäftigten aufwenden müssen. Es war für die Gewerkschaften relativ leicht, die klassischen Vertreter des Normalarbeitsverhältnisses – den männlichen, alleinverdienenden Facharbeiter im Fordismus – zu organisieren. Zum einen herrschten durch eine ähnliche soziale Lage ähnliche Interessen vor, die auch eine gewerkschaftliche Interessenbildung und -vertretung erleichterten (»Samstags gehört Vati mir«). Zum anderen war durch die relativ hohen Löhne die Finanzierung der Gewerkschaften und ihr damit verbundener Ausbau zu sozialpartnerschaftlichen Institutionen sichergestellt. All dies ist mit prekär Beschäftigten nicht gegeben. Der hohe Aufwand, den die Gewerkschaften zu leisten haben, bei gleichzeitig ungewissem Erfolg und Ausgang der Organisierungsbemühungen erscheint zuerst als plausibles Argument gegen eine Konzentration gewerkschaftlicher Aktivitäten auf prekäre Beschäftigung. Jedoch haben Gewerkschaften damit zugleich ihre Augen vor der Realität einer wachsenden Anzahl von wenigstens atypisch, wenn nicht prekär Beschäftigten verschlossen.

Dass das Thema Prekarität aber durchaus bei den Gewerkschaften angekommen ist, zeigt beispielhaft eine Broschüre des DGB-Bundesvorstands unter dem Titel Prekäre Beschäftigung – Herausforderung für die Gewerkschaften, Anregungen und Vorschläge für die gewerkschaftliche Diskussion. Dort werden zu den einzelnen Bereichen, die der DGB als prekär ausgemacht hat, wie Leiharbeit, Befristung, Praktika oder auch den zweiten Arbeitsmarkt, gewerkschaftliche Gegenstrategien aufgezeigt. Erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt werden potentielle, zivilgesellschaftliche BündnispartnerInnen sowie eine vergeschlechtlichte Perspektive der Prekarität. Progressive Forderungen wie eine Arbeitszeitverkürzung werden der Broschüre im Vorwort zwar vorangestellt, aber ebenfalls nicht weiter behandelt. Dies könnte aber Potential für zukünftige Gewerkschaftsarbeit bilden.

Gewerkschaften sollten sich dabei die Befunde aus der Prekarisierungsforschung nutzbar machen. Denn Prekarisierung zwingt Gewerkschaften, ihre traditionellen Strategien zu überdenken. Bereits 2011 hat Hae-Lin Choi in ihrer Studie Die Organisierung der Unorganisierbaren wertvolle Ergebnisse über prekäre Beschäftigung und gewerkschaftliche Organisierungsstrategien in den USA, Südkorea und Italien veröffentlicht. Anhand von fünf Dimensionen zeigt sie Herausforderungen auf, die sich für Gewerkschaften bei prekärer Beschäftigung ergeben. Sie nennt Raum, Zeit, Arbeitgeberwiderstand, Zugehörigkeit und Ressourcenmangel: Neben der räumlichen Fragmentierung der Beschäftigten durch kleinbetriebliche (Sub)Strukturen tritt ein Mangel an Zeit und Ressourcen infolge langer Arbeitszeiten. In Verbindung mit einschüchternden Taktiken der ArbeitgeberInnen und einem fehlenden Zugehörigkeitsgefühl führt dies dazu, dass Kollegialität und Vertrauen zwischen den prekär Beschäftigten kaum entstehen können. Damit sind jedoch zugleich entscheidende Bedingungen für Organisierung und Widerstand benannt.

Diese Ergebnisse können auch für Deutschland fruchtbar gemacht werden, da auch hier die Gewerkschaften diesen verschiedenen Problembereichen begegnen müssen. Wenn sich die deutschen Gewerkschaften aber ernsthaft mit dem mannigfaltigen Phänomen von Prekarität auseinandersetzen und die Integration von prekär Beschäftigten in die Gewerkschaften voranbringen wollen, wird dies notwendigerweise auch zu einer zunehmenden Heterogenisierung der gewerkschaftlichen Mitgliederstrukturen führen. In einer solchen Strukturänderung der gewerkschaftlichen Arbeit liegen aber große Chancen. Die Heterogenität prekär Beschäftigter könnte für eine stärkere Mitgliederbeteiligung nutzbar gemacht werden und das Verhältnis zwischen Repräsentanten (Gewerkschaften) und Repräsentierten (Beschäftigten) mit neuem Inhalt füllen. Direkte Demokratie, wirkliche Mitbestimmung in den Gewerkschaften sowie daraus resultierende Erfahrungen der Selbstermächtigung der abhängig Beschäftigten könnten eine Folge dessen werden.

Hierbei könnte das gemeinsame Erleben der subjektiven Unsicherheit in prekären Berufen zur Basis einer neuen Form von kollek­tivem Widerstand werden. Die IG Metall scheint dies erkannt zu haben und forderte 2013 auf einer Konferenz: »Die Beteiligung der Mitglieder der IG Metall muss stärker in der gewerkschaftlichen Arbeit verankert werden«. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, konkrete Lebensrealitäten in prekären Bereichen zu erfahren und in die Gewerkschaftsarbeit einfließen zu lassen. Es gibt Beispiele und Möglichkeiten der Organisierung prekär Beschäftigter. Streiks im Einzelhandel sowie im Sicherheitsgewerbe in Nordrhein-Westfalen haben gezeigt, dass auch hier erfolgreich Widerstand geleistet werden konnte. Gewerkschaften konnten hier spezifische Organisa­tionsangebote für prekär Beschäftigte entwickeln. Diese sollten sich an drei Prinzipien orientieren:

1) Gewerkschaft als Ratgeber auf Augenhöhe

Zum einen gibt es Hürden zwischen offiziellen VertreterInnen von Gewerkschaften und Ak­tivistInnen in prekären Lagen. Menschen in Unsicherheit stehen hier meist abgesicherte hauptamtliche FunktionärInnen gegenüber. Die Rolle der Gewerkschaften als Ratgeber, Unterstützung und Vernetzung (vor allem über den Betrieb hinaus) bleibt essentiell, jedoch sollten sie die besonderen Interessen von prekär Beschäftigten nach Stabilität, Absicherung und Sicherheit anerkennen. Dazu gehört auch, dem Träge-Werden jener Gewerkschaften entgegenzuwirken, die immer noch lediglich am Typus des »männlichen Facharbeiters« interessiert sind.

2) Social Movement Unionism

Zweitens müssen Gewerkschaften lernen, mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und VertreterInnen der sozialen Bewegungen  zu kooperieren und sich selbst (wieder) stärker als soziale Bewegung verstehen. Dafür können neue Formen von Streik und  Aktionsformen wie Organizing dienen, durch die die Partizipation der ›Basis‹, Kommunikation und demokratische Kultur gestärkt werden. Dies verlangt eine Unterstützung ›von oben‹ (durch die Gewerkschaftsführung) und ›von unten‹ durch Netzwerkarbeit.

3) neue Organisationsformen

Damit zusammenhängend rückt auch die Kampagnenfähigkeit weiter in den Mittelpunkt.  Wichtig hierfür ist die Kooperation mit lokalen PartnerInnen wie den Sozialverbänden, Kirchen, Parteien, sozialen Bewegungen oder Vereinen, denn ohne die Unterstützung anderer Gruppen kann selten genügend Druck auf die Unternehmen ausgeübt werden. Hierbei können Gewerkschaften eine Handlungsplattform für verschiedene AkteurInnen sein, wenn es ihnen gelingt, Zusammenhänge zwischen unmittelbaren Erfahrungen am Arbeitsplatz und den gesellschaftlichen Prozessen herzustellen und gemeinsame Interessenslagen aufzusteigen.

Freilich, das ist Sisyphusarbeit unter schwierigsten Bedingungen, und es wird sicher keine einheitliche Strategie geben, sondern eher eine Vielzahl von Handlungsperspektiven. Das verbindende Element muss allerdings ein Grundwert der Gewerkschaft sein: Solidarität. Diese muss Prämisse sein – und nicht Mittel zum Zweck für mehr Organisationsmacht oder für Mitgliedergewinnung als Selbstzweck. Dazu gehört eine große Portion Mut und Strategie, was angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen durchaus utopisch erscheinen kann. Antonio Gramsci hatte diesen Gedanken in seinen Gefängnisheften ins Politische übertragen und einen »Pessimismus des Verstandes« bei gleichzeitigem »Optimismus des Willens« angemahnt. Dies könnte ein Anspruch für Gewerkschaften in Bezug auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse sein.