Ein Verein fürs Lesen und Schreiben

Mitten in Berlin-Neukölln, in einem schicken Altbau direkt am U-Bahnhof Karl-Marx-Straße, befindet sich der Verein „Lesen und Schreiben e.V.“. Wie der Projektname verrät, lernen hier Menschen Lesen und Schreiben – und das seit 30 Jahren. Ein Besuch bei einem Hoffnungstäter.

Erschienen bei Was bildet ihr uns ein

Alles begann, wie sooft, mit einer Idee im Studium, durch private Beziehungen und ohne ausreichende Finanzierung. Das Konzept war und ist so simpel wie brillant: Pädagog_innen, Sozialarbeiter_innen und Freiwillige entwickeln gemeinsam mit Analphabet_innen Methoden, wie sie Lesen und Schreiben lernen können. Aber es ist nicht nur ein Alphabetisierungsprojekt, sondern es geht darum, Wissen zu vermitteln, wie Geschichte und Sozialkunde, aber auch PC-Kurse und Bewerbungstraining werden angeboten. Der Verein nennt das Grundbildung.

„Wir unterscheiden uns grundsätzlich von Kursen, wie zum Beispiel der Volkshochschule (VHS), da wir unsere Einrichtung auch als Lebensraum betrachten“, so Urda Thiessen, die Leiterin des Vereins Lesen und Schreiben e.V. Berlin. Sie sitzt in ihrem Büro. Über den Hinterhof kann man die Werkstatt des Vereins, mit Holzbänken und Werkzeug sehen. Hier können die Teilnehmenden zum Beispiel an ihren Fahrrädern rumbasteln, zu Ostern haben sie gemeinsam Holzhasen gebaut, die sie auf einem Markt verkaufen. „Arbeit und Lernen gehören hier zusammen“, sagt Thiessen weiter.

Teilnehmenden kommen jeden Tag

Diese Grundidee prägt bis heute die Arbeit des Vereins. Schreiben und Lesen lernen werden verbunden mit Sozialpädagogik und allgemeiner Grundbildung. Es gibt keinen festen Lehrplan, lediglich bei den Schreibkursen werden die Teilnehmenden nach ihren Schreibfähigkeiten in drei Leistungsgruppen aufgeteilt – wann in der Werkstatt, der Küche oder im Garten gearbeitet wird, entscheidet jede_r selbst. Seit 1983 gibt es das eigene Zeitungsprojekt, bei dem die Zeitung Jeder hat das Recht Lesen und Schreiben zu lernen entsteht.

Das so individuell gelernt und gearbeitet wird, schätzen sowohl Lernende als auch Lehrende. „Offenheit, Neugier und Engagement wecken, Talente freilegen und die Möglichkeit eröffnen, Dinge auszuprobieren“, sagt Thiessen. Darum ginge es hier.

Alle Teilnehmenden sind 40 Stunden, fünfmal die Woche hier in Neukölln. Dadurch kann intensiver und individueller auf die Stärken und Schwächen der Lernenden eingegangen werden. Die „Schülerinnen und Schüler“ sind zwischen 17 und 60 Jahre – ihr Geschlecht und Herkunft spielt keine Rolle. Die Gruppen variieren zwischen acht bis 14 Teilnehmenden.

Dem Verein fehlt Planungssicherheit

Doch ist es wie sooft bei guten Ideen, die aus der Zivilgesellschaft heraus entstehen: der Staat tut sich schwer, mit ihnen umzugehen. Leider bildet auch der Verein „Lesen und Schreiben e.V.“ keine Ausnahme. Es wurde zwar eine halbe Stelle durch den Berliner Senat finanziert und die Kurse des Vereins werden als berufsvorbereitende Maßnahmen gewertet, doch im Zuge der Sozialstaatsreformen der ehemaligen rot-grünen Bundesregierung wurden diese Maßnahmen von einem Jahr auf zehn Monate gekürzt und konnten somit nicht mehr den erwünschten Erfolg erzielen. Es mussten Räume aufgegeben und sich von Personal getrennt werden.

Mittlerweile ist die Situation so, dass die zuständigen Jobcenter es nicht als ihre Aufgabe sehen, Alphabetisierungskurse anzuerkennen und es von Sachbearbeiter_in zu Sachbearbeiter_in unterschiedlich gehandhabt würde, erklärt Uda Thiessen. „Wir haben keine Rechtsgrundlage, schwammige Paragraphen, die so oder so ausgelegt werden können und dadurch weder Planungs- noch Rechtssicherheit für unsere Maßnahmen“, sagt sie weiter. Die Angst, dass ihr Projekt nicht weiter verlängert wird bzw. die Teilnehmenden ihre Kurse im Jobcenter nicht angerechnet bekommen, ist ein stetiger Begleiter. Der Verein kann seine Arbeit für etwa ein Jahr planen. Dies ist sowohl für die dort arbeitenden, als auch für die lernenden Personen ein großes Problem, da nicht gesagt werden kann, wie es mit dem Verein weitergeht.

Die Absurdität des Systems

Das Problem wird besonders deutlich und zeigt seine zynischen Seite als Urda Thiessen über die gängige Praxis der Jobcenter spricht. Oft erkennen die Bearbeiter_innen die Kurse des Vereins „Lesen und Schreiben e.V.“ nicht an. Dennoch hat das Jobcenter das Ziel, sie in Arbeit zu bringen und steckt sie daher in sogenannte Qualifizierungsmaßnahmen, wie zum Beispiel Bewerbungstraining und Textverarbeitung für Analphabetinnen und Analphabeten. Diese kostenintensiven Maßnahmen bringen aber oft für Betroffene nichts, da sie komplexe Texte oder sogar ihren eigenen Namen nicht lesen oder schreiben können. Die Jobcenter-Angebote sind sogar kontraproduktiv, da auf ihre Bedürfnisse nicht eingegangen wird – ja, auch nicht eingegangen werden kann.

Jedoch folgen für Teilnehmende dieser Maßnahmen Sanktionen, wenn diese ablehnen. Es gibt jedoch einige, die es schaffen, ihre Zeit in den Maßnahmen abzusitzen – und diese sogar erfolgreich beenden. Dies habe, so Uda Thiessen, schon zu Situationen geführt, dass Teilnehmenden in ihren Verein kamen, ein Zertifikat der erfolgreichen Teilnahme an der Maßnahme zeigten, dieses aber selbst nicht lesen konnten. „Hier wird doch die ganze Absurdität des Ganzen deutlich“, sagt sie.

Auch die „Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung“ der schwarz-gelben Bundesregierung habe an dem Grundproblem nichts geändert und konnte nichts verbessern, so Uda Thiessen. Vielmehr sei es problematisch, dass Analphabetismus als isoliertes Problem betrachtet wird und Aspekte wie grundlegende Mathematik hier keine Rolle spielen. Allgemein attestiert der Verein „Lesen und Schreiben e.V.“ der zuständigen Politik Desinteresse. Die Kooperation in Neukölln werde zwar, insbesondere von der SPD und den Jusos, positiv gesehen, aber eine wirkliche Änderung sei dadurch nicht möglich. Diese sei aber zwingend nötig. Ein erster Schritt hierbei sei die Gleichstellung mit den offiziell anerkannten Integrationskursen, die 1200 Stunden betragen. Dadurch hätte der Verein Planungssicherheit und könnte seinen Teilnehmenden mehr Angebote machen.

Es braucht neue Strukturen

Darüber hinaus müssten Strukturen geschaffen werden, die Alphabetisierung und Grundbildung als übergreifendes Thema begreifen und alle beteiligten Akteur_innen beteiligen. Eine Beauftragte oder ein Beauftragter für Grundbildung könnte hier die Koordination übernehmen.

Dies ist aber Aufgabe der Politik, die das Thema endlich auf die Agenda setzen muss und Trägern wie dem Verein „Lesen und Schreiben e.V.“ nicht Hürden in den Weg stellen darf, sondern alles unternehmen muss, diese Hürden zu beseitigen.